In Berlin war es nun die ganze Sorge der deutschen Regierung
und ihres Kanzlers Bethmann Hollweg, die Verantwortung für die
weitere Eskalation des Krieges in den Augen der Öffentlichkeit auf Russland
abzuwälzen. Anders als Wilhelm II. sah Bethmann Hollweg die Notwendigkeit, auch die Führung der
deutschen Arbeiterbewegung, also der SPD und der Gewerkschaften, in die
deutsche Kriegspolitik mit einzubinden, damit keine nennenswerte Opposition
gegen den Krieg aufkommen konnte. Und nichts eignete sich dazu besser als
russische Angreifer, gegen die man sich und die Kultur des Westens verteidigen
musste, denn der russische Zarismus war in der deutschen Arbeiterbewegung tief
verhasst.
Dass die Entwicklung diesmal auf einen handfesten Krieg
hinsteuerte, hatte in der SPD-Führung zunächst nur Hugo Haase erkannt. Am 23.
Juli, nach Bekanntgabe des Wiener Ultimatums an Serbien, schloss sich die ganze
SPD-Führung der Einschätzung Haases an. Doch Julian Marchlewski, ein Vertreter des linken
SPD-Flügels, schrieb noch am 23. Juli in der »Sozialdemokratischen Korrespondenz«:
»Von ernsthafter Kriegsgefahr ist augenblicklich sicher nicht die Rede.«[1]
Haase organisierte eine Kette von Friedenskundgebungen in
ganz Deutschland mit etwa 500.000 Teilnehmern – allesamt im Saale, denn
Kundgebungen auf der Straße waren bereits verboten. Die Redner prangerten zwar
den abenteuerlichen Kurs der österreichischen Regierung an, nicht jedoch das
dahinterstehende Berliner Abenteurertum. Am 24. Juli fand im Gegenzug auch
die erste antirussische Demonstration kriegslüsterner Kleinbürger vor der
russischen Botschaft in Berlin statt. Diese Volksbewegung erwies sich im
weiteren Verlauf als die stärkere.
Geschickterweise verzichtete die Regierung darauf, die in
ihren Schubladen liegenden Pläne für die Herstellung des inneren
Kriegszustandes durchzuführen und alle SPD- und Gewerkschaftsführer
festzunehmen. Stattdessen empfing Unterstaatssekretär Drews am 26. Juli
die Sozialdemokraten Haase und Otto Braun, um der SPD-Führung mitzuteilen,
dass man ihre Friedenskundgebungen dulden werde. Sie sollten aber dafür
sorgen, dass die Redner offene Kritik an der deutschen Regierungspolitik
vermieden, um den »Kriegshetzern in Russland« nicht in die Hände zu arbeiten.
Drews versicherte den Sozialdemokraten, die deutsche Regierung sei am Erhalt
des Friedens interessiert, werde aber eingreifen, wenn Russland einen Krieg
provozieren sollte. Haase widersprach, wie er in seinem Tagebuch notierte,
Drews‘ Einschätzung, dass ein von Österreich provozierter Krieg für Deutschland
den Bündnisfall nach dem Dreibund-Vertrag auslöse.[2]
Zwei Tage später traf sich Reichskanzler Bethmann Hollweg
mit dem SPD-Reichstagsabgeordneten Albert
Südekum, um über ihn den SPD-Parteivorstand
im Sinne einer stillschweigenden Unterstützung des deutschen Kurses zu
beeinflussen. Südekum hielt noch am selben Tag Rücksprache mit dem übrigen
Parteivorstand und berichtete Bethmann Hollweg schriftlich, seitens der SPD
seien – gerade im Interesse des Friedens – keinerlei Streikaktionen gegen die
Regierung geplant. Der SPD-Vorstand war offensichtlich tief beeindruckt, von
Seiner Exzellenz, dem Reichskanzler persönlich, in einem so kritischen Moment
deutscher Politik ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Immerhin galten die
Sozialdemokraten 1914 offiziellerseits noch als »vaterlandslose Gesellen«. Am
30. Juli berief sich Bethmann Hollweg in einer Kabinettssitzung auf den Brief
Südekums und versicherte seinen Ministern, von seiten der SPD seien keine
Streikaktionen zu befürchten. Am nächsten Tag wurde mit dem »Zustand drohender
Kriegsgefahr« auch der Belagerungszustand im Innern erklärt; von da an waren
sämtliche Anti-Kriegs-Kundgebungen verboten. Das zu diesem Zweck mobilisierte
preußische Gesetz stammte aus dem Jahre 1851, richtete sich also ursprünglich
gegen die bürgerlichen Revolutionäre von 1848.
Am 29. und 30. Juli trat in Brüssel das Internationale
Sozialistische Büro zusammen, eine Art Vorstand der II. Internationale. Für die
SPD waren Hugo Haase und Karl Kautsky, für die polnische
Sozialdemokratie Rosa Luxemburg in Brüssel. Französische,
britische und deutsche Sozialisten versicherten sich gegenseitig, dass ihre
jeweiligen Regierungen keinen Krieg wollten.[3]
Haase referierte, was ihm Unterstaatssekretär Drews zugesagt hatte. Auch bei
den Sozialisten sah man also, ganz wie Bethmann Hollweg sich das vorgestellt
hatte, den Schwarzen Peter bei den Russen. Rosa Luxemburg ahnte zwar besser als andere
die Gefahr und beantragte, sofort einen außerordentlichen
Sozialistenkongress zur Kriegsfrage abzuhalten wie im November 1912. Man beschloss, den für den 23. August in Wien geplanten regulären Kongress nach
Paris zu verlegen, auf den 9. August vorzuziehen und die Kriegsfrage als ersten
Punkt in die Tagesordnung aufzunehmen.
Doch auch die sonst so scharfsichtige Beobachterin erkannte
nicht, was in Berlin gespielt wurde. Am 28. Juli schrieb sie in der
»Sozialdemokratischen Korrespondenz«, Österreich habe sein Ultimatum ohne
Absprache mit der deutschen Regierung in die Welt gesetzt und zwinge jetzt
seinen Verbündeten Deutschland, »sich gleichfalls in das Blutmeer kopfüber zu
stürzen, sobald das verbrecherische Treiben Österreichs den russischen Bären
auf den Kampfplatz wird herausgelockt haben. (...) Fragt man freilich, ob die
deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht verneint
werden.«[4]
Ein verhängnisvoller Irrtum! Sie teilte jedoch nicht den Irrtum vieler SPD-Führer,
die glaubten: Die SPD dürfe deshalb nicht offen gegen einen deutschen
Kriegseintritt auftreten, weil nur eine »entschlossene« deutsche Haltung die
russischen »Kriegshetzer« zur Räson bringen könne. Da setzte Rosa Luxemburg
lieber auf den »entschlossenen Friedenswillen« des russischen Proletariats.
Mit dem war dann drei Jahre später tatsächlich eine Revolution zu machen.
"Deutschland von links: 1790-1990"
von Toni Kalverbenden
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