Mittwoch, 13. August 2014

Deutschland 1914: Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Zunächst jedoch nahm das Unheil seinen Lauf, und kein Proletariat der Welt hat 1914 ernsthaft versucht, es zu stoppen. Am 29. Juli, einen Tag nach Kriegsausbruch in Österreich und Serbien, beschloss Zar Nikolaj II. zunächst eine Teilmobilisierung der russischen Armee an der österrei­chisch-ungarischen Grenze. Am gleichen Tage erklärte der britische Außenminister Grey dem deutschen Botschaf­ter, Großbritannien werde in den Krieg eingreifen, wenn sich Deutschland und Frankreich an dem Konflikt zwischen Österreich und Russland beteiligen sollten. 

Das ver­unsicherte einen Tag lang den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der gespürt haben mag, dass die weitere Eskalation des Krieges in den Untergang führen musste, und dass dieser Moment der letzte war, den Wahnsinn zu stoppen. Anders der deutsche General­stabschef, Helmuth von Moltke (1848-1916): Der Neffe des berühmten preußi­schen Generalfeld­marschalls drängte schon seit 1912 auf Krieg und forderte deshalb am 30. Juli über den österrei­chischen Militärattaché seinen Wiener Kollegen Conrad von Hötzendorf auf, sofort gegen Russland zu mobilisieren und den europäischen Krieg zu wagen; »Deutschland geht unbedingt mit.«[1] Moltke dachte an den Schlieffenplan, der vorsah, dass die Österreicher den Deutschen im Osten den Rücken freihalten sollten, und an die wachsende Militärmacht Russlands.

Am 30. Juli beschloss die russische Regierung die Generalmobilmachung der russischen Armee, was am folgenden Tag allgemein bekannt wurde. Zum Schicksalstag wurde Freitag, der 31. Juli 1914.

l  Berlin, früher Vormittag: Im deutschen Generalstab treffen erste Meldungen über russische Mobilmachungsmaßnahmen an der deutschen Ostgrenze ein. In der Tat startet in diesen Stunden die russische Generalmobilmachung.
l  Wien, später Vormittag: Gedrängt vom deutschen Generalstab unterzeichnet Kaiser Franz Joseph die allgemeine Mobilmachung in Österreich-Ungarn.
l  Paris, Café le croissant, Mittag: Der französische Sozialistenführer und Philosoph Jean Jaurès, ein überzeugter Pazifist, wird 54jährig von einem fanatischen Nationalisten ermordet.
l  Berlin, Wilhelmstraße, 13 Uhr: Auf Druck des Generalstabs erklärt die deutsche Regie­rung den »Zustand drohender Kriegsgefahr«. Das bedeutet innenpolitisch die Verhängung des Belagerungs­zustandes und militärisch den Beginn der allgemeinen Mobilmachung zwei Tage später, also zum 2. August.
l  Berlin, Reichstag, Nachmittag: Partei- und Fraktionsvorstand der SPD beraten über die zu erwartende Abstimmung im Reichstag über Kriegskredite. Die meisten sind für eine Stimm­enthaltung der Sozialdemokraten. Nur der Abgeordnete Eduard David spricht für die An­nahme der Kriegskredite.
l  Berlin, Kaiserliches Schloss, 15 Uhr: Kaiser Wilhelm II. billigt ein deutsches Ultimatum an Russland, das ein deutscher Diplomat wenig später dem russischen Botschafter übergibt. Eine Stunde später übergibt ein deutscher Diplomat dem französischen Botschafter ebenfalls ein Ultimatum.
l  Paris, Abend: Das föderative Komitee des französischen Gewerkschaftsbundes CGT beschließt, auf einen Generalstreik gegen die bevorstehende Mobilisierung der Armee zu verzichten. Im Gegenzug läßt die französische Regierung ihre Pläne zur Festnahme von meh­reren tausend Gewerkschaftern und Anarchisten in der Schublade.

In den Augen der deutschen Öffentlichkeit waren diese Schritte nur eine Reaktion auf die russi­sche Generalmobilmachung, also rein defensiv. Die Wirklichkeit sah anders aus. Der abenteuer­liche und verhängnisvolle Schlieffenplan von 1905 zwang die deutsche Regierung, den Krieg mit Frankreich zu forcieren. Für den 2. August war bereits der Überfall auf Luxemburg vorgesehen, für den 4. August der Über­fall auf das neutrale Belgien. Zu diesem Zweck setzte die deutsche Regierung mit ihren Ultima­ten Russland und Frankreich die Pistole auf die Brust: Russland müsse innerhalb von 12 Stunden alle militärischen Maßnahmen widerrufen, und Frank­reich innerhalb von 18 Stunden seine Neutralität für den Fall eines deutsch-russischen Krieges erklä­ren, andernfalls drohe die Kriegserklärung. Für den Fall, dass die Franzosen das Ultimatum wider Erwarten akzeptieren sollten, hatte der deutsche Botschafter in Paris die Anweisung, als zusätzliche Sicherheit die Übergabe der französischen Festungen Toul und Verdun an deutsche Truppen zu verlangen; eine für Frankreich völlig inakzeptable Demütigung.

Da die russische Regierung das deutsche Ultimatum nicht beantwortete, erklärte die deutsche Regierung am Abend des 1. August Russland den Krieg. Bereits am Nachmittag war die allge­meine Mobilmachung verkündet worden. Die Regierung in Paris erklärte zum deutschen Ulti­matum, Frankreich werde »gemäß seinen Interessen« handeln. Großbritannien machte seine Flotte mobil. Am 2. August verlangte die deutsche Regierung von Belgien ein Durchmarsch­recht für ihre Truppen, unter dem Vorwand, einem angeblich bevorstehenden französischen Angriff auf Belgien zuvorkommen zu müssen. In Kenntnis des deutschen Kriegsplanes sicherte Groß­britannien Frankreich den Schutz der Kanalküste zu. Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg, unter dem Vorwand, französische Truppen hätten die deutsche West­grenze verletzt. In der Nacht zum 4. August begann der deutsche Überfall auf Belgien, dessen Regierung sich geweigert hatte, einen Durchmarsch deutscher Truppen zu gestatten.

Im britischen Kabinett gab es Widerstände gegen einen Kriegseintritt. Der soziali­stische Gewerkschaftsführer John Burns trat aus Protest gegen den Krieg als Minister zurück. Der deutsche Überfall auf Belgien, dessen Neutralität seit dem Londoner Protokoll von 1839 unter britischem Schutz stand, führte jedoch zur Entscheidung im Sinne Greys: ein Ultimatum, das angesichts der deutschen Truppen in Belgien einer Kriegserklärung gleichkam. Bethmann Hollwegs Spekulation auf eine britische Neutralität war gescheitert, der Große Europäische Krieg komplett. In einer heftigen Diskussion mit dem britischen Botschafter nannte Bethmann Hollweg das Londoner Protokoll einen »Fetzen Papier«. Stunden später bekannte er sich vor dem Reichstag zum Bruch des Völkerrechts und versprach Belgien scheinheilig Ersatz für die angerichteten Kriegsschä­den. Auf Druck des Militärs widerrief er diese Erklärung im Dezember 1914.


Auszug aus dem Buchprojekt
"Deutschland von links: 1790-1990"
von Toni Kalverbenden



[1]     Feldmarschall Conrad v. Hötzendorf: Aus meiner Dienstzeit. Bd. 4, Wien 1923, S. 152. Zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 28.

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