Zunächst jedoch nahm das Unheil seinen Lauf, und kein
Proletariat der Welt hat 1914 ernsthaft versucht, es zu stoppen. Am 29. Juli,
einen Tag nach Kriegsausbruch in Österreich und Serbien, beschloss Zar Nikolaj
II. zunächst eine Teilmobilisierung der russischen
Armee an der österreichisch-ungarischen Grenze. Am gleichen Tage erklärte der
britische Außenminister Grey dem deutschen Botschafter,
Großbritannien werde in den Krieg eingreifen, wenn sich Deutschland und
Frankreich an dem Konflikt zwischen Österreich und Russland beteiligen sollten.
Am 30. Juli beschloss die russische Regierung die
Generalmobilmachung der russischen Armee, was am folgenden Tag allgemein
bekannt wurde. Zum Schicksalstag wurde Freitag,
der 31. Juli 1914.
l Berlin,
früher Vormittag: Im deutschen Generalstab treffen erste Meldungen über
russische Mobilmachungsmaßnahmen an der deutschen Ostgrenze ein. In der Tat
startet in diesen Stunden die russische Generalmobilmachung.
l Wien,
später Vormittag: Gedrängt vom deutschen Generalstab unterzeichnet Kaiser Franz
Joseph die allgemeine Mobilmachung in
Österreich-Ungarn.
l Paris,
Café le croissant, Mittag: Der französische Sozialistenführer und Philosoph
Jean Jaurès, ein überzeugter Pazifist,
wird 54jährig von einem fanatischen Nationalisten ermordet.
l Berlin,
Wilhelmstraße, 13 Uhr: Auf Druck des Generalstabs erklärt die deutsche Regierung
den »Zustand drohender Kriegsgefahr«. Das bedeutet innenpolitisch die
Verhängung des Belagerungszustandes und militärisch den Beginn der allgemeinen
Mobilmachung zwei Tage später, also zum 2. August.
l Berlin,
Reichstag, Nachmittag: Partei- und Fraktionsvorstand der SPD beraten über die
zu erwartende Abstimmung im Reichstag über Kriegskredite. Die meisten sind für
eine Stimmenthaltung der Sozialdemokraten. Nur der Abgeordnete Eduard David spricht für die Annahme der Kriegskredite.
l Berlin,
Kaiserliches Schloss, 15 Uhr: Kaiser Wilhelm II. billigt ein deutsches
Ultimatum an Russland, das ein deutscher Diplomat wenig später dem russischen
Botschafter übergibt. Eine Stunde später übergibt ein deutscher Diplomat dem
französischen Botschafter ebenfalls ein Ultimatum.
l Paris,
Abend: Das föderative Komitee des französischen Gewerkschaftsbundes CGT
beschließt, auf einen Generalstreik gegen die bevorstehende Mobilisierung der
Armee zu verzichten. Im Gegenzug läßt die französische Regierung ihre Pläne zur
Festnahme von mehreren tausend Gewerkschaftern und Anarchisten in der
Schublade.
In den Augen der deutschen
Öffentlichkeit waren diese Schritte nur eine Reaktion auf die russische
Generalmobilmachung, also rein defensiv. Die Wirklichkeit sah anders aus. Der
abenteuerliche und verhängnisvolle Schlieffenplan
von 1905 zwang die deutsche Regierung, den Krieg mit Frankreich zu forcieren.
Für den 2. August war bereits der Überfall auf Luxemburg vorgesehen, für
den 4. August der Überfall auf das
neutrale Belgien. Zu diesem Zweck setzte die deutsche Regierung mit ihren
Ultimaten Russland und Frankreich die Pistole auf die Brust: Russland müsse
innerhalb von 12 Stunden alle militärischen Maßnahmen widerrufen, und Frankreich
innerhalb von 18 Stunden seine Neutralität für den Fall eines
deutsch-russischen Krieges erklären, andernfalls drohe die Kriegserklärung.
Für den Fall, dass die Franzosen das Ultimatum wider Erwarten akzeptieren
sollten, hatte der deutsche Botschafter in Paris die Anweisung, als zusätzliche
Sicherheit die Übergabe der französischen Festungen Toul und Verdun an deutsche
Truppen zu verlangen; eine für Frankreich völlig inakzeptable Demütigung.
Da die russische Regierung das deutsche Ultimatum nicht
beantwortete, erklärte die deutsche Regierung am Abend des 1. August Russland
den Krieg. Bereits am Nachmittag war die allgemeine Mobilmachung verkündet
worden. Die Regierung in Paris erklärte zum deutschen Ultimatum, Frankreich
werde »gemäß seinen Interessen« handeln. Großbritannien machte seine Flotte
mobil. Am 2. August verlangte die deutsche Regierung von Belgien ein
Durchmarschrecht für ihre Truppen, unter dem Vorwand, einem angeblich
bevorstehenden französischen Angriff auf Belgien zuvorkommen zu müssen. In
Kenntnis des deutschen Kriegsplanes sicherte Großbritannien Frankreich den
Schutz der Kanalküste zu. Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den
Krieg, unter dem Vorwand, französische Truppen hätten die deutsche Westgrenze
verletzt. In der Nacht zum 4. August begann der deutsche Überfall auf Belgien,
dessen Regierung sich geweigert hatte, einen Durchmarsch deutscher Truppen zu
gestatten.
Im britischen Kabinett gab es Widerstände gegen einen
Kriegseintritt. Der sozialistische Gewerkschaftsführer John Burns trat aus Protest gegen den Krieg als Minister zurück. Der deutsche
Überfall auf Belgien, dessen Neutralität seit dem Londoner Protokoll von 1839
unter britischem Schutz stand, führte jedoch zur Entscheidung im Sinne Greys: ein Ultimatum, das
angesichts der deutschen Truppen in Belgien einer Kriegserklärung gleichkam.
Bethmann Hollwegs Spekulation auf eine
britische Neutralität war gescheitert, der Große Europäische Krieg komplett. In
einer heftigen Diskussion mit dem britischen Botschafter nannte Bethmann
Hollweg das Londoner Protokoll einen »Fetzen Papier«. Stunden später
bekannte er sich vor dem Reichstag zum Bruch des Völkerrechts und versprach
Belgien scheinheilig Ersatz für die angerichteten Kriegsschäden. Auf Druck des
Militärs widerrief er diese Erklärung im Dezember 1914.
Auszug aus dem Buchprojekt
"Deutschland von links: 1790-1990"
von Toni Kalverbenden
"Deutschland von links: 1790-1990"
von Toni Kalverbenden
[1] Feldmarschall Conrad v. Hötzendorf: Aus
meiner Dienstzeit. Bd. 4, Wien 1923, S. 152. Zit. nach Gutsche/Klein/Petzold,
S. 28.
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