Es fehlten noch ein paar Schüsse in Sarajevo, um den Großen
Krieg auszulösen. Sie fielen am 28. Juni 1914. Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, der habsburgische
Thronfolger, besuchte an diesem Sommertag mit seiner Gattin, Gräfin Sophie
Chotek, die Hauptstadt von
Bosnien-Herzegowina, die sich Österreich-Ungarn 1908 einverleibt hatte. Die
beiden verließen das Rathaus, bestiegen ein offenes Automobil und wurden bei
der Fahrt durch die Innenstadt aus der Menschenmenge heraus von dem 19jährigen
Gymnasiasten Gavrilo Princip erschossen. Es war der zweite
Mordanschlag an einem Tag: Wenige Stunden zuvor hatte bereits jemand eine
Bombe auf das Auto des Paares geworfen, es aber verfehlt. Bei der Explosion
waren mehrere Begleiter verletzt worden. Trotzdem hatte Franz Ferdinand auch
seine zweite für die Serben provozierende Fahrt angetreten.
Der Auslöser des Krieges war nicht so nebensächlich, wie er
erscheinen mag. Franz Ferdinand war ein Neffe des Kaisers Franz Joseph und durch den Selbstmord des
Kronprinzen und den Tod seines Vaters 1896 Thronfolger geworden. Er hatte
entscheidenden Einfluss im österreichischen Militär und wurde 1898
Stellvertreter des Kaisers im Obersten Kommando, 1913 Generalinspekteur der
Armee; ein enger Vertrauter des Generalstabschefs Franz Graf Conrad von Hötzendorf. Dass dieser entscheidende Mann in den
folgenden Tagen so heftig auf Krieg drängte, mag auch mit dem persönlichen
Verlust eines Freundes zu tun haben.
Gavrilo Princip war bosnischer Serbe und Mitglied der
Verschwörergruppe »Jung-Bosnien«, die sich gegen die Besetzung und Annexion
Bosniens durch Österreich wehrte. Sie stand mit dem serbischen Geheimbund
»Schwarze Hand« in Verbindung. Die zuvor türkischen Provinzen Bosnien und
Herzegowina waren 1878 von Österreich besetzt und 1908 förmlich annektiert worden.
Dort – und besonders eng in der Hauptstadt Sarajevo – lebten orthodoxe Serben,
katholische Kroaten und moslemische Bosnier auf engstem Raum zusammen. Die
Serben, die sich gegen Österreich auflehnten, wurden von der großserbischen
Bewegung in Serbien und ihren Aktivisten in der »Schwarzen Hand« unterstützt.
»Krieg, Krieg, Krieg!« schrie General Conrad von Hötzendorf am nächsten Tag im Gespräch
mit dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold.
»Jetzt oder nie«, notierte Kaiser Wilhelm II. am 3. Juli in Berlin auf
einem Bericht des deutschen Botschafters in Wien. Darin stand, in den
leitenden Kreisen in Wien sage man, es müsse einmal gründlich mit den Serben
»abgerechnet« werden.
»Serbien muss sterbien«, reimte ein Zyniker wenig später.
Der SPD-Vorsitzende Hugo Haase äußerte in der Parteivorstandssitzung
am 29. Juni die Befürchtung, das Attentat von Sarajevo am Vortag könne die
allgemeine Kriegsgefahr auf einen neuen Höhepunkt treiben. Am gleichen Tag
begann in Berlin der Prozess gegen Rosa Luxemburg wegen ihrer Freiburger Rede
über Soldatenmisshandlungen. Antragsteller war der preußische Kriegsminister
Erich von Falkenhayn. Als sich nach einem Aufruf der SPD-Presse 1013 Zeugen für
Misshandlungen in den Kasernen meldeten, drängten Falkenhayn und der
Staatsanwalt auf Vertagung auf unbestimmte Zeit. Der Prozess endete am 3. Juli.[1]
Die österreichische Regierung traute sich nicht, ohne deutsche Rückendeckung gegen Serbien vorzugehen, denn Serbien wurde von Russland geschützt. Deshalb lag der Schlüssel für die Entfesselung des Krieges in Berlin. In Berlin sah man folgenden Ablauf klar vor sich: Österreich erklärt Serbien den Krieg, um seinen toten Thronfolger zu rächen und sich vor weiteren serbischen Anschlägen zu schützen. Russland erklärt Österreich den Krieg, um seinem Verbündeten Serbien beizustehen. Deutschland erklärt Russland den Krieg, um seinem Verbündeten Österreich beizustehen. Und Frankreich erklärt Deutschland den Krieg, um seinem Verbündeten Russland beizustehen. Großbritannien und Italien blieben in dieser typisch deutschen Rechnung neutral. Danach ging es schön der Reihe nach: Frankreich wurde per »Blitzkrieg« erledigt und Russland – zu langsam, um noch eingreifen zu können – im folgenden Jahr. Während sich die deutsche Armee auf Frankreich stürzte, sollten die Österreicher Russland in Schach halten.
Am 5. Juli überreichte der österreichische Botschafter in
Berlin Kaiser Wilhelm II. ein Schreiben von Kaiser Franz Joseph und ein Memorandum des
österreichischen Außenministers. Franz
Joseph schrieb seinem kaiserlichen Kollegen: Die Ausschaltung Serbiens als
Machtfaktor auf dem Balkan ist jetzt das Ziel der österreichischen Politik.
Wilhelm II. ermunterte die Österreicher, den »günstigen Moment« nicht
ungenutzt verstreichen zu lassen und mit ihrer »Aktion« gegen Serbien nicht
mehr länger zu warten. Für den als sicher angenommenen Fall, dass Russland sich
einmischen sollte, könne Österreich sich ganz auf seinen deutschen Verbündeten
verlassen. Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet. Noch am gleichen und
am folgenden Tag besprach sich Wilhelm II. mit dem preußischen Kriegsminister
und führenden Offizieren des General- und Admiralstabs und mit dem
»Kanonenkönig« Gustav Krupp von Bohlen und Halbach,
um sicherzugehen, dass die deutsche Militärmaschinerie jederzeit bereitstand.
Ähnliche Zusagen wie von Wilhelm II. erhielt die
österreichische Delegation auch von Reichskanzler Theobald von Bethmann
Hollweg. Dieses deutsche Signal ist
als »Blankovollmacht« in die
Geschichte eingegangen; die Österreicher hatten freie Hand gegen Serbien. Der
Reichskanzler hat sie ausgestellt, weil er
zwei Dinge befürchtete: Deutschland könne seinen letzten Verbündeten
verlieren, und es könne den Krieg gegen Russland, den man für unausweichlich
hielt, bald nicht mehr führen, weil Russland sich ebenfalls industrialisierte,
Eisenbahnen baute, stärker wurde. Bethmann Hollweg stöhnte in diesen Tagen:
»Die Zukunft gehört Russland, das wächst und wächst und sich als immer
schwererer Alp auf uns legt.«[2]
Eine Option, mit Russland in Frieden zu leben, kam für diese Herren offenbar
nicht in Frage.
Die Österreicher brauchten vierzehn Tage, um ein Ultimatum an die serbische Regierung zu formulieren. Das Ultimatum ging ohne weitere Beweise davon aus, dass die Drahtzieher des Mordanschlags von Sarajevo in Belgrad sitzen und Verbindung zur serbischen Regierung haben. Man forderte von der serbischen Regierung die Annahme eines Katalogs von Unterdrückungsmaßnahmen gegen die großserbische Bewegung und die strenge Verfolgung der Verschwörer – unter Teilnahme von österreichisch-ungarischen Beamten. Diese letzte, völkerrechtswidrige Bedingung war eigens zu dem Zweck ersonnen worden, eine Ablehnung des Ultimatums sicherzustellen; denn es ging darum, den Krieg vom Zaun zu brechen, koste es, was es wolle. Diesem Zweck diente auch die Befristung des Ultimatums auf 48 Stunden, von denen bei seiner offiziellen Bekanntgabe am 24. Juli schon 15 verstrichen waren. Die verbleibende Zeit sollte so kurz gehalten werden, dass kein dritter Staat mehr Gelegenheit hatte, zwischen Österreich-Ungarn und Serbien erfolgreich zu vermitteln.
Kurz vor Bekanntgabe des Ultimatums, am 20. Juli, trafen der
französische Staatspräsident Raymond Poincaré und sein Ministerpräsident
Viviani zu einem lange vorher
ausgemachten Staatsbesuch in Petersburg ein. Poincaré versicherte dem Zaren und
dem russischen Außenminister Sergej Dimitrijewitsch Sasonow die unverbrüchliche
Bündnistreue Frankreichs für den Fall eines aus dem österreichisch-serbischen
Konflikt entstehenden Krieges. Auch in Petersburg rechnete man mit einem bevorstehenden
großen Krieg, den man dazu nutzen wollte, endlich die Meerengen zwischen
Mittelmeer und Schwarzem Meer unter russische Kontrolle zu bringen. Allerdings
hätten die Russen lieber noch zwei weitere Jahre Vorbereitungszeit gehabt bis
zum Kriegsausbruch.
Nach Bekanntgabe des Ultimatums versuchten Sasonow und der
französische Botschafter in Petersburg, vom britischen Botschafter eine klare
Hilfszusage zu bekommen, jedoch vergeblich. Die britische Regierung mit
Außenminister Edward Grey legte sich zunächst nicht
fest, denn es gab eine starke Stimmung im Vereinigten Königreich, sich in den
balkanischen Konflikt um Serbien nicht einzumischen und neutral zu bleiben.
Andererseits sah die Regierung klar die Zwangslage, in die England zu geraten
drohte. Unterstaatssekretär Eyre Crowe umriss in einer
Notiz zu dem Bericht des britischen Botschafters in Petersburg die europäische
Machtkonstellation im Kriegsfalle aus britischer Sicht:[3]
»Entweder siegen Deutschland und Österreich, sie erdrücken
Frankreich und demütigen Russland. Die französische Flotte verschwunden,
Deutschland im Besitz des Kanals, mit der bereitwilligen oder widerstrebenden
Kooperation Hollands und Belgiens: Wie wird dann die Lage eines freundlosen
England sein? Oder Frankreich und Russland siegen. Wie werden sie sich dann
gegen [ein neutral gebliebenes] England verhalten? Und wie wird's mit Indien
und dem Mittelmeer stehen? In diesem Kampf, der nicht um den Besitz Serbiens
geht, sondern bei dem es sich um das Ziel Deutschlands, seine politische
Vorherrschaft in Europa zu errichten, und um den Wunsch der Mächte handelt,
ihre individuelle Freiheit zu erhalten – in diesem Kampf sind unsere Interessen
mit denen Frankreichs und Russlands verknüpft.«
Gerade wegen der erwähnten russischen Pläne bezüglich
Bosporus und Dardanellen war die britische Regierung in Sorge. Die britische
Flotte, Grundlage des riesigen britischen Kolonialreiches, beanspruchte
traditionell freie Fahrt durchs Mittelmeer und durch den Suez-Kanal nach
Indien. Man befürchtete, im Falle eines russischen Sieges über Deutschland ohne
britische Beteiligung am Ende außen vor zu stehen und dem bedrohlichen
russischen »Griff auf das Mittelmeer« machtlos zusehen zu müssen. Da ein
Bündnis mit Deutschland nicht in Frage kam, blieb nur das Bündnis mit
Frankreich und Russland, um weiter im europäischen Machtspiel zu bleiben.
Gleichwohl ließ eine klare britische Äußerung zum Serbienkonflikt auf sich
warten, und das bestärkte die Machtpolitiker in Berlin in ihrer
verhängnisvollen Illusion, England werde in dem angestrebten Kriege neutral
bleiben.
Die russische Regierung befürchtete wiederum, nicht schnell
genug auf einen deutsch-österreichischen Einmarsch reagieren zu können. Wenn
der Krieg schon zu diesem aus russischer Sicht verfrühten Zeitpunkt ausbrach,
so musste man wenigstens die Mobilisierung der russischen Militärmaschinerie
so früh wie irgend möglich in die Wege leiten. Die vorgezogenen russischen
Mobilisierungsbefehle erleichterten in den folgenden Tagen nicht unerheblich
die Entfaltung des Weltkriegs – und machten den entscheidenden Strich durch
die deutsche Angriffsplanung.
Auf russisches Anraten hin formulierten die Serben ihre Antwort auf das österreichische Ultimatum äußerst gemäßigt und vermieden jede Schärfe im Ton. Die meisten Forderungen Wiens wurden akzeptiert, manche allerdings nur unter Vorbehalt. Nur die Teilnahme österreichisch-ungarischer Beamter an der Verfolgung der Verschwörer wurde erwartungsgemäß abgelehnt. Der österreichische Botschafter antwortete mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Auf Drängen Berlins erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli, genau einen Monat nach dem Attentat, Serbien den Krieg. Am 29. Juli schlugen die ersten österreichischen Granaten in Belgrad ein. Die Geschichte wiederholte sich im April 1941 mit einem deutschen Bombenangriff auf die serbische und jugoslawische Hauptstadt.
***
"Deutschland von links: 1790-1990" ist ein Buchprojekt von Toni Kalverbenden.
***
[1]
Wörterbuch Geschichte 2, S. 678
[2] Übermittelt durch seinen persönlichen
Referenten Kurt Riezler in dessen Tagebuch, zit. nach Craig 294
[3] Die Britischen Amtlichen Dokumente über den
Ursprung des Weltkrieges 1914-1918. Im Auftrage des Brit. Auswärtigen Amtes
hrsg. v. G. P. Gooch u. H. Temperley; dt. Ausg. hrsg. v. H. Lutz, Bd. 1, Berlin
1926, Nr. 101, S. 135f.; zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 24f.
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