Montag, 28. Juli 2014

Deutschland 1914: Sarajewo und die Julikrise

Es fehlten noch ein paar Schüsse in Sarajevo, um den Großen Krieg auszulösen. Sie fielen am 28. Juni 1914. Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, der habs­burgische Thronfolger, besuchte an diesem Sommertag mit seiner Gattin, Gräfin Sophie Chotek, die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, die sich Österreich-Ungarn 1908 einverleibt hatte. Die beiden verließen das Rathaus, bestiegen ein offenes Automobil und wurden bei der Fahrt durch die Innenstadt aus der Menschenmenge heraus von dem 19jährigen Gymnasiasten Gavrilo Princip erschossen. Es war der zweite Mord­an­­schlag an einem Tag: Wenige Stunden zuvor hatte bereits jemand eine Bombe auf das Auto des Paares geworfen, es aber verfehlt. Bei der Explosion waren mehrere Begleiter verletzt worden. Trotzdem hatte Franz Ferdinand auch seine zweite für die Serben provozierende Fahrt angetreten.


Der Auslöser des Krieges war nicht so nebensächlich, wie er erscheinen mag. Franz Ferdinand war ein Neffe des Kaisers Franz Joseph und durch den Selbstmord des Kron­prinzen und den Tod seines Vaters 1896 Thronfolger geworden. Er hatte entscheidenden Einfluss im österreichischen Militär und wurde 1898 Stellvertreter des Kaisers im Obersten Kommando, 1913 General­inspekteur der Armee; ein enger Vertrauter des Generalstabs­chefs Franz Graf Conrad von Hötzendorf. Dass dieser entscheidende Mann in den folgenden Tagen so heftig auf Krieg drängte, mag auch mit dem persönlichen Verlust eines Freundes zu tun haben.
Gavrilo Princip war bosnischer Serbe und Mitglied der Verschwörergruppe »Jung-Bos­nien«, die sich gegen die Besetzung und Annexion Bosniens durch Österreich wehrte. Sie stand mit dem serbischen Geheimbund »Schwarze Hand« in Verbindung. Die zuvor türkischen Provin­zen Bosnien und Herze­gowina waren 1878 von Österreich besetzt und 1908 förmlich annektiert wor­den. Dort – und besonders eng in der Hauptstadt Sarajevo – lebten ortho­doxe Serben, katholische Kroaten und moslemische Bosnier auf engstem Raum zusammen. Die Serben, die sich gegen Österreich auflehnten, wurden von der großserbischen Bewegung in Serbien und ihren Aktivisten in der »Schwarzen Hand« unterstützt.
»Krieg, Krieg, Krieg!« schrie General Conrad von Hötzendorf am nächsten Tag im Gespräch mit dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold.
»Jetzt oder nie«, notierte Kaiser Wilhelm II.  am 3. Juli in Berlin auf einem Bericht des deut­schen Botschafters in Wien. Darin stand, in den leitenden Kreisen in Wien sage man, es müsse einmal gründlich mit den Serben »abgerechnet« werden.
»Serbien muss sterbien«, reimte ein Zyniker wenig später.

Der SPD-Vorsitzende Hugo Haase äußerte in der Partei­vorstandssitzung am 29. Juni die Befürchtung, das Attentat von Sarajevo am Vortag könne die allgemeine Kriegsgefahr auf einen neuen Höhepunkt treiben. Am gleichen Tag begann in Berlin der Prozess gegen Rosa Luxemburg wegen ihrer Freiburger Rede über Soldatenmisshandlungen. Antragsteller war der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Als sich nach einem Aufruf der SPD-Presse 1013 Zeugen für Misshandlungen in den Kasernen meldeten, drängten Falkenhayn und der Staatsanwalt auf Vertagung auf unbestimmte Zeit. Der Prozess endete am 3. Juli.[1]

Die österreichische Regierung traute sich nicht, ohne deutsche Rücken­deckung gegen Serbien vorzugehen, denn Serbien wurde von Russland geschützt. Deshalb lag der Schlüssel für die Ent­fesselung des Krieges in Berlin. In Berlin sah man folgenden Ablauf klar vor sich: Österreich erklärt Serbien den Krieg, um seinen toten Thronfolger zu rächen und sich vor weiteren serbi­schen Anschlägen zu schützen. Russland erklärt Österreich den Krieg, um seinem Verbündeten Serbien beizustehen. Deutschland erklärt Russland den Krieg, um seinem Verbündeten Öster­reich beizustehen. Und Frankreich erklärt Deutschland den Krieg, um seinem Verbündeten Russland beizustehen. Großbritannien und Italien blieben in dieser typisch deutschen Rechnung neutral. Danach ging es schön der Reihe nach: Frankreich wurde per »Blitzkrieg« erledigt und Russland – zu langsam, um noch eingreifen zu können – im folgenden Jahr. Während sich die deutsche Armee auf Frank­reich stürzte, sollten die Österreicher Russland in Schach halten.
Am 5. Juli überreichte der österreichische Botschafter in Berlin Kaiser Wilhelm II. ein Schrei­ben von Kaiser Franz Joseph und ein Memorandum des österreichischen Außenministers.  Franz Joseph schrieb seinem kaiserlichen Kollegen: Die Ausschaltung Serbiens als Machtfaktor auf dem Balkan ist jetzt das Ziel der österreichischen Politik. Wilhelm II. ermunterte die Öster­reicher, den »günstigen Moment« nicht ungenutzt verstreichen zu lassen und mit ihrer »Aktion« gegen Serbien nicht mehr länger zu warten. Für den als sicher angenommenen Fall, dass Russland sich einmischen sollte, könne Österreich sich ganz auf seinen deutschen Verbündeten ver­lassen. Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet. Noch am gleichen und am folgenden Tag besprach sich Wilhelm II. mit dem preußischen Kriegsminister und führenden Offizieren des General- und Admiralstabs und mit dem »Kanonenkönig« Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, um sicherzugehen, dass die deutsche Militär­maschinerie jederzeit bereitstand.
Ähnliche Zusagen wie von Wilhelm II. erhielt die österreichische Delegation auch von Reichs­kanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Dieses deutsche Signal ist als »Blankovollmacht« in die Geschichte eingegangen; die Österreicher hatten freie Hand gegen Serbien. Der Reichskanzler hat sie ausgestellt, weil er  zwei Dinge befürchtete: Deutschland könne seinen letzten Verbündeten verlieren, und es könne den Krieg gegen Russland, den man für unausweichlich hielt, bald nicht mehr führen, weil Russland sich ebenfalls industrialisierte, Eisenbahnen baute, stärker wurde. Bethmann Hollweg stöhnte in diesen Tagen: »Die Zukunft gehört Russland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alp auf uns legt.«[2] Eine Option, mit Russland in Frieden zu leben, kam für diese Herren offenbar nicht in Frage.

Die Österreicher brauchten vier­zehn Tage, um ein Ultimatum an die serbische Regierung zu formulieren. Das Ultimatum ging ohne weitere Beweise davon aus, dass die Drahtzieher des Mordanschlags von Sarajevo in Bel­grad sitzen und Verbindung zur serbischen Regierung haben. Man forderte von der serbischen Regierung die Annahme eines Katalogs von Unter­drückungsmaß­nahmen gegen die großserbi­sche Bewegung und die strenge Verfolgung der Verschwörer – unter Teil­nahme von österrei­chisch-ungari­schen Beamten. Diese letzte, völkerrechtswidrige Bedingung war eigens zu dem Zweck ersonnen worden, eine Ablehnung des Ultimatums sicher­zustellen; denn es ging darum, den Krieg vom Zaun zu brechen, koste es, was es wolle. Diesem Zweck diente auch die Befri­stung des Ultimatums auf 48 Stunden, von denen bei seiner offiziellen Bekanntgabe am 24. Juli schon 15 verstrichen waren. Die verbleibende Zeit sollte so kurz gehalten werden, dass kein drit­ter Staat mehr Gelegenheit hatte, zwischen Österreich-Ungarn und Serbien erfolgreich zu ver­mitteln.
Kurz vor Bekanntgabe des Ultimatums, am 20. Juli, trafen der französische Staatspräsident Raymond Poincaré und sein Ministerpräsident Viviani zu einem lange vorher ausgemachten Staatsbesuch in Petersburg ein. Poincaré versicherte dem Zaren und dem russischen Außenmi­nister Sergej Dimitrijewitsch Sasonow die unverbrüchliche Bündnistreue Frankreichs für den Fall eines aus dem österreichisch-serbischen Konflikt entstehenden Krieges. Auch in Petersburg rechnete man mit einem bevor­stehenden großen Krieg, den man dazu nutzen wollte, endlich die Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer unter russische Kontrolle zu bringen. Allerdings hätten die Russen lieber noch zwei weitere Jahre Vorbereitungszeit gehabt bis zum Kriegsausbruch.
Nach Bekanntgabe des Ultimatums versuchten Sasonow und der französi­sche Botschafter in Petersburg, vom britischen Botschafter eine klare Hilfszusage zu bekommen, jedoch vergeblich. Die britische Regierung mit Außenminister Edward Grey legte sich zunächst nicht fest, denn es gab eine starke Stimmung im Vereinigten Königreich, sich in den balkani­schen Konflikt um Serbien nicht einzumischen und neutral zu bleiben. Andererseits sah die Regierung klar die Zwangslage, in die England zu geraten drohte. Unter­staatssekretär Eyre Crowe umriss in einer Notiz zu dem Bericht des britischen Botschafters in Petersburg die euro­päische Machtkonstel­lation im Kriegsfalle aus britischer Sicht:[3]

»Entweder siegen Deutschland und Österreich, sie erdrücken Frankreich und demütigen Russ­land. Die französische Flotte verschwunden, Deutschland im Besitz des Kanals, mit der bereit­willigen oder widerstrebenden Kooperation Hollands und Belgiens: Wie wird dann die Lage eines freundlosen England sein? Oder Frankreich und Russland siegen. Wie werden sie sich dann gegen [ein neutral gebliebenes] England verhalten? Und wie wird's mit Indien und dem Mittel­meer stehen? In diesem Kampf, der nicht um den Besitz Serbiens geht, sondern bei dem es sich um das Ziel Deutschlands, seine politische Vorherrschaft in Europa zu errichten, und um den Wunsch der Mächte handelt, ihre individuelle Freiheit zu erhalten – in diesem Kampf sind unsere Interessen mit denen Frankreichs und Russlands verknüpft.«

Gerade wegen der erwähnten russischen Pläne bezüglich Bosporus und Dardanellen war die britische Regierung in Sorge. Die britische Flotte, Grundlage des riesigen britischen Kolonial­reiches, beanspruchte traditionell freie Fahrt durchs Mittelmeer und durch den Suez-Kanal nach Indien. Man befürchtete, im Falle eines russischen Sieges über Deutschland ohne britische Beteiligung am Ende außen vor zu stehen und dem bedrohlichen russischen »Griff auf das Mit­telmeer« machtlos zusehen zu müssen. Da ein Bündnis mit Deutschland nicht in Frage kam, blieb nur das Bündnis mit Frankreich und Russland, um weiter im europäischen Machtspiel zu blei­ben. Gleichwohl ließ eine klare britische Äußerung zum Serbienkonflikt auf sich warten, und das bestärkte die Machtpolitiker in Berlin in ihrer verhängnisvollen Illusion, England werde in dem angestrebten Kriege neutral bleiben.
Die russische Regierung befürchtete wiederum, nicht schnell genug auf einen deutsch-öster­reichischen Einmarsch reagieren zu können. Wenn der Krieg schon zu diesem aus russischer Sicht verfrühten Zeitpunkt ausbrach, so musste man wenigstens die Mobilisierung der russi­schen Militärmaschinerie so früh wie irgend möglich in die Wege leiten. Die vorgezogenen russi­schen Mobilisierungsbefehle erleichterten in den folgenden Tagen nicht unerheblich die Entfal­tung des Weltkriegs – und machten den entscheidenden Strich durch die deutsche Angriffs­planung.

Auf russisches Anraten hin formulierten die Serben ihre Antwort auf das österreichische Ultimatum äußerst gemäßigt und vermieden jede Schärfe im Ton. Die meisten Forderungen Wiens wurden akzeptiert, manche allerdings nur unter Vorbehalt. Nur die Teilnahme österrei­chisch-ungarischer Beamter an der Verfolgung der Verschwörer wurde erwartungsgemäß abge­lehnt. Der österreichische Botschafter antwortete mit dem Abbruch der diplomatischen Bezie­hungen. Auf Drängen Berlins erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli, genau einen Monat nach dem Attentat, Serbien den Krieg. Am 29. Juli schlugen die ersten österreichischen Granaten in Belgrad ein. Die Geschichte wiederholte sich im April 1941 mit einem deutschen Bombenangriff auf die serbische und jugoslawische Hauptstadt.

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"Deutschland von links: 1790-1990" ist ein Buchprojekt von Toni Kalverbenden.
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[1]     Wörterbuch Geschichte 2, S. 678
[2]     Übermittelt durch seinen persönlichen Referenten Kurt Riezler in dessen Tagebuch, zit. nach Craig 294
[3]     Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1914-1918. Im Auftrage des Brit. Auswärtigen Amtes hrsg. v. G. P. Gooch u. H. Temperley; dt. Ausg. hrsg. v. H. Lutz, Bd. 1, Berlin 1926, Nr. 101, S. 135f.; zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 24f.

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