Günter Grass bezeichnete im April 2012 in einem Gedicht, das die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte, die Atommacht Israel als Gefahr für den Weltfrieden. Außerdem stellte er dort Israel und dem Iran moralisch auf die gleiche Stufe, um die Tatsachen gegeneinander stellen zu können, dass Israel Atombomben besitzt, der Iran aber wahrscheinlich nicht. War diese Attacke auf die israelische Staatsführung, wie viele behaupten, antisemitisch?
Schwer zu sagen. Denn zunächst fällt mir an Grass‘ Text unangenehm auf, dass er verschwurbelt ist – voll von unübersichtlichen Schachtelsätzen, voll auch von unüberprüfbaren und nebensächlichen egozentrischen Betrachtungen, wo es doch eigentlich um ein außenpolitisches Thema geht.
Als Pazifist begrüße ich seine – am Ende dann doch deutlich werdende – Stellungnahme gegen die israelische Atommacht und gegen deutsche Rüstungsexporte, die diese Atommacht verstärken sollen. Seiner Forderung, dass die israelische Atommacht genauso unter internationale Kontrolle gehört wie die befürchteten Atommachtpläne des Iran, kann ich als Pazifist nur zustimmen. Schließlich sind auch (hoffentlich) alle anderen Atomwaffen der Welt aus guten Gründen Gegenstand der internationalen Rüstungskontrolle und von Abrüstungsverhandlungen.
Grass hat nicht, wie viele seiner Gegner behaupteten, Israel als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet, sondern die Atommacht Israel. Seine Attacke richtet sich also nicht gegen Israel als Staat, sondern gegen diejenigen in Israel, die über Atomwaffen verfügen: die Regierung und die Militärführung. An dieser Stelle ist das Antisemitismus-Kriterium nicht erfüllt. Grass hat zum Glück der Versuchung widerstanden, Israel als Ganzes mit den israelischen Kriegstreibern gleichzusetzen.
Doch seine verquast egozentrischen Betrachtungen über das eigene Schweigen, das er nun endlich brechen müsse, erzeugen bei mir beim Lesen ein Unbehagen. Ich muss dem TAZ-Redakteur Klaus Hillenbrand zumindest teilweise Recht geben, der genau hier, in diesem Spiel mit dem eigenen Tabubruch, in diesem Kokettieren mit zu erwartenden "Strafen", ein antisemitisches Klischee am Werke sieht. In der Tat: Wenn Grass so tut, als habe er sich bislang einem von der israelischen Regierung ausgeübten Zwang gebeugt, ihre Politik niemals zu kritisieren, dann ist das sicherlich unwahr (ich gehe davon aus, dass Grass auch schon früher die israelische Regierungspolitik öffentlich kritisiert hat). Und es bedient die ohne Zweifel antisemitische Vorstellung vieler Leute, die glauben, die israelische Regierung habe die Macht, in allen Ländern öffentliche Kritik an der israelischen Regierung zu verfolgen und zu unterdrücken. Diese Macht hat sie natürlich nicht. Die hat sie noch nicht einmal im eigenen Land.
Andererseits war Grass‘ schon im Gedicht vorweggenommene Einschätzung, dass man ihm Antisemitismus vorwerfen würde, durchaus realistisch, wie die weitere Debatte ja gezeigt hat. Diese Vorwürfe wären vermutlich auch dann gekommen, wenn Grass sich etwas anders ausgedrückt hätte. Sie hängen mit seiner eigenen historischen Rolle im Zweiten Weltkrieg zusammen, die Herta Müller sogar zu dem bescheuerten Satz veranlasste: Wer einmal die SS-Uniform getragen habe, könne kein objektives Urteil mehr fällen. Ach ja? Und sie, Herta Müller, könnte also ein objektives Urteil über Israel fällen? Wo hätte Günter Grass denn jemals behauptet, dass seine Meinungsäußerung über die israelische Atommacht und über das deutsche U-Boot, das an Israel geliefert werden soll, den Charakter eines objektiven Urteils habe?
Allerdings bleibt der unangenehme Verdacht, dass Grass seinen Text genau so formuliert hat, wie er ist, um genau jenen Skandal auszulösen, den er ausgelöst hat. „Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt.“ (Goethe) - Und, Herr Grass: Wenn Ihnen jemand Antisemitismus vorwirft, unterdrückt das Ihre Meinungsfreiheit nicht. Dieser Vorwurf gehört seit Jahrzehnten zum unverzichtbaren Ritual sämtlicher Israeldebatten in Deutschland.
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Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann wandte sich heute, am 10. April 2012, in der taz gegen den permanenten Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs. Herzlichen Dank, Herr Zuckermann, für diese Klarstellungen! Ein bedrückender Nebenaspekt dieser Debatte ist, dass Pazifismus (z. B. Widerstand gegen Rüstungsexport und gegen eine unkontrollierte Atommacht) als antisemitisch verleumdet wird, während Kriegstreiberei (z. B. Henryk Broders Aufrufe, alle Araber im Zweifelsfall zu erschießen) sich als philosemitisch ausgibt. Ach Gott, ich liebe Kurt Eisner, Hugo Haase, Gustav Landauer, Rosa Luxemburg, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky ("Soldaten sind Mörder") und Georg Kreisler ("Der General")! Broder und Netanjahu würden sie wohl alle heute als Antisemiten "entlarven".
1) Der kämpfende Pazifist, der sich der Größe seiner Aufgabe bewusst ist, wird keinen Unterschied machen zwischen Bürger- und Völkerkrieg, zwischen äußeren und inneren Feinden. Für ihn gibt es nur einen Krieg, nur einen Frieden. Mit gleicher Macht erstrebt er den Frieden nach innen wie nach außen.
AntwortenLöschen2) Der Pazifist, der tiefer in die Beweggründe der Kriege schaut, geht noch einen Schritt weiter in der Beurteilung des Bürger- und Völkerfriedens und sagt, der Kriegsgeist, der Geist der Gewalt, ist ein Kind des chronischen bürgerlichen Kriegszustandes, der die Eingeweide aller Kulturvölker zerreißt. Wer diesen Geist bekämpfen will, muss ihn in erster Linie als Bürger im eigenen Lande bekämpfen. Der Weg zum Völkerfrieden geht über den Weg des Bürgerfriedens und nicht umgekehrt.
3) Das, was die Völker und Volksklassen in Waffen gegeneinander treibt und immer getrieben hat, sind Dinge wirtschaftlicher Natur, die Notzustände schaffen oder vorherrschen lassen, und für diese Zustände gilt das Gesetz: NOT KENNT KEIN GEBOT. Die Not bricht nicht nur Eisen, sondern auch Verfassungen, Verträge und Bündnisse und setzt sich über alle moralischen, ethischen und religiösen Hemmungen hinweg. Nichts ist schließlich der Not heilig als der Kampf gegen ihre Ursachen.
4) Auf die Beseitigung solcher Notzustände hat also der ernsthafte Friedenskämpfer sein Augenmerk zu richten, unbeschadet seiner etwaigen Überzeugung, dass der Frieden oder wenigstens der Friedenswunsch mit moralischen, religiösen und ethischen Mitteln auch noch gefordert werden könne.
5) Der Notzustand, der zu den Kriegen treibt, hat wenigstens bei den heutigen Industrie- und Handelsvölkern seinen Grund nicht in einem naturgegebenen Mangel an Industrie- und Nährstoffen, sondern in unseren gesellschaftlichen Einrichtungen, die die Produktion und den Austausch beherrschen und die Arbeit tributpflichtig machen, wobei der Umstand noch erschwerend wirkt, dass zur Sicherung dieses Tributes der Produktion und dem Tausch Hemmungen bereitet werden müssen, die zu Krisen und Arbeitslosigkeit führen. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, um die es sich da handelt, sind das Privateigentum an Grund und Boden und das herkömmliche, aus dem Altertum in unveränderter Gestalt von uns übernommene Geldwesen, dessen Mängel immer offensichtlicher geworden sind. Grund- und Geldbesitzer fordern Zins, sonst sperren sie der Produktion den Boden und dem Austausch der Produkte das Geld. Dieser Zins überträgt sich automatisch auf das gesamte Wirtschaftsleben und schafft das, was als Kapitalismus bezeichnet wird.
Silvio Gesell (Stabilisierung des Bürger- und Völkerfriedens, 1928)
Erst die Religion machte die halbwegs zivilisierte Menschheit “wahnsinnig genug” für die Benutzung von Geld, damit das, was wir heute “moderne Zivilisation” nennen, überhaupt entstehen konnte.
Für den eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation bedarf es der Überwindung der Religion (Erkenntnisprozess der Auferstehung): http://www.deweles.de/willkommen.html