Mittwoch, 30. März 2011

Fukushima: War die Abschaltung der Atomkraftwerke irrational?

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle versuchte Ende März 2011 auf einer internen Tagung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), die Entscheidung der Bundesregierung, sieben deutsche Atomkraftwerke wegen der Katastrophe von Fukushima vorübergehend abzuschalten, vor den verständnislosen deutschen Industrie-unternehmern zu rechtfertigen. Er sagte laut Protokoll, das jemand dankenswerterweise an die Presse weiterleitete, sinngemäß: »Die Politik« (er meinte damit die Bundesregierung und die Landesregierung von Baden-Württemberg) sei wegen anstehender Landtagswahlen unter dem Druck von Wählern und deshalb gelegentlich zu »irrationalen« Entscheidungen gezwungen.
 Damit hat Brüderle mindestens zwei Fragen aufgeworfen: Unter wessen Druck steht die Bundesregierung, wenn sie gerade nicht oder kaum unter dem Druck der Wähler steht? Und was bedeutet Rationalität im Angesicht der Katastrophe von Fukushima?


Die zweite Frage wurde indirekt auch von jenen Journalisten aufgeworfen, die im Zusammenhang mit Reaktionen der Bevölkerung auf die atomare Bedrohung (und andere Bedrohungen) wiederholt mit dem Wort »Panik« operierten. Die Zeitungen sprachen z. B. von »Panikkäufen«, als viele Menschen in Tokio Taschenlampen und Batterien kauften, um sich auf die angekündigten Stromausfälle vorzubereiten. Das Wort »panikartig« wurde auch benutzt, als viele ausländische Touristen und Geschäftsleute das katastrophengeplagte Land verließen. In solchen Fällen von Panik zu sprechen, ist offensichtlich Unsinn. In beiden Fällen handelt es sich um völlig rationale Reaktionen von Menschen, die an ihre Zukunft und ihre Gesundheit denken. Aber das Wort Panik wird von Journalisten gerne (und falsch) benutzt, wenn viele Menschen aus Sorge oder aus Angst vor realen Gefahren gleichzeitig das gleiche tun. Wer dagegen aus Dummheit oder Leichtsinn nicht vorsorgt, gilt in der merkwürdigen Logik der Journalisten offenbar als vernünftig und besonnen. Natürlich nur, bis die Journalisten darüber berichten werden, in welche Schwierigkeiten solche Menschen später geraten sind. Dann werden die gleichen Journalisten nicht müde werden, die Dummheit der Massen zu denunzieren.

In beiden hier untersuchten Fällen geht es um eine prinzipielle Voreingenom­menheit: Die Haltung der Bevölkerung oder der Wähler wird prinzipiell als irrational diffamiert, während die Haltung von Industrieunternehmern prinzipiell als rational gilt, egal was diese Leute tun.

War es irrational, die sofortige Abschaltung der sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke zu fordern, weil sich das sog. Restrisiko in Japan aus einer unvorstellbar kleinen statistischen Zahl in die weithin sichtbare Explosion mehrerer Atomkraftwerke verwandelt hatte? Und zwar in Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Deutschen zuvor bereits zwei dieser angeblich so gut wie ausgeschlossenen Fälle erlebt hatten: Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986. Und war es rational, darauf zu bestehen, dass Neckarwestheim & Co. unter allen Umständen am Netz bleiben, wie es die Industrieunternehmer im BDI offenbar getan haben?

Ich stelle hier die These auf: Es war genau umgekehrt; die Haltung der Wähler war und ist rational, die Haltung der Industrieunternehmer (der sich Brüderle im Prinzip anschloss) war und ist irrational. Sicher, die Katastrophe war in Japan, und die Reaktoren stehen in Deutschland. Sicher, es gibt einheitliche Sicherheits­vorschriften für ältere und neuere deutsche Atomkraftwerke. Sicher, ein dauerhaftes Abschalten deutscher Atomkraftwerke könnte bewirken, dass französischer Atomstrom nach Deutschland importiert wird. Doch keiner dieser Einwände stellt die Rationalität des Abschaltens wirklich in Frage. Aus folgenden Gründen:
1.    Fukushima hat gezeigt, dass auch Atomreaktoren, die nach Maßgabe höchster Sicherheitsstandards, wie sie in dicht besiedelten, hochmodernen „Industrie­nationen“ gelten, nicht wirklich sicher sind. Es ist rational, aus diesem Umstand die drängende Frage abzuleiten: Was passiert, wenn einem deutschen Atomreaktor etwas Schlimmes passiert, z. B. ein Terroranschlag mit einem großen Flugzeug? Oder ein ungewöhnlich heftiges Erdbeben? Oder eine ungewöhnlich heftige Überschwemmung?
2.    Die einheitlichen Sicherheitsvorschriften ändern nichts daran, dass ältere Atomkraftwerke im Prinzip weniger sicher sind als neuere. Das liegt z. B. daran, dass technische Systeme, die mehrfach umgebaut und nachgerüstet werden mussten, unsicherer sein dürften als technische Systeme, die noch aus einem Guss sind – weil jeder Umbau und jede Nachrüstung zusätzliche Schnittstellen, Komplikationen und Kompatibilitätsprobleme erzeugt. Und auch daran, dass es zu älteren Systemen weniger aktive Fachleute gibt, die das System noch von Grund auf kennen gelernt haben.
3.    Auch wenn Neckarwestheim I und Biblis A dauerhaft abgeschaltet werden und der Strom, den sie produziert haben, künftig von französischen Atomkraftwerken erzeugt wird (was in Anbetracht der Überkapazitäten unwahrscheinlich ist), nimmt die Gefahr von Atomunfällen ab. Denn der größte Teil dieser Gefahr ist standortabhängig: Je mehr Standorte von Atomkraftwerken es gibt, desto größer ist die Gefahr, dass einer davon von einem Erdbeben, einer Überschwemmung oder einem Terroranschlag getroffen wird. Das gilt erst recht – und dazu sinkt auch die Gefahr von Wartungs- und Bedienungsfehlern –, wenn die Zahl der aktiven Reaktoren insgesamt abnimmt; wenn der Ausgleich also dadurch zustande kommt, dass einige französische Reaktoren ihre Leistung erhöhen.

Anders sieht die Sache naturgemäß im kurzsichtig betriebswirtschaftlichen Blickwinkel der Eigentümer deutscher Atomkraftwerke sowie der Eigentümer etwa von Stahl-, Aluminium- und Chemie-Unternehmen aus, die bislang von den Überkapazitäten am europäischen Strommarkt und den damit verbundenen Rabatten für industrielle Großverbraucher profitiert haben. Für diese wenigen Leute verschlechtern sich die Marktbedingungen, wenn sie den Atomstrom nicht mehr selber verkaufen können, sondern die französische Konkurrenz das tut (oder auch die einheimische Windkraft-Konkurrenz), oder wenn sich der allzu billige Industriestrom verteuert. Aber schlechtere Marktbedingungen kommen im Kapitalismus gelegentlich vor und sind nichts Irrationales. Zudem ist nur ein kleiner Teil der deutschen Wirtschaft von diesen Nachteilen betroffen. Für den vermutlich viel größeren Teil bringt es sogar Vorteile, wenn Häuser wärmegedämmt, wenn Windkraft und Stromnetze ausgebaut, wenn Blockheizkraftwerke mit Brennstoffzellen gebaut, wenn hemmungsloser Energieverbrauch durch intelligente Planung, Informationstechnik und Logistik ersetzt werden. Sogar Banken und Versicherungen profitieren von Neuerungen aller Art mehr als vom Weiterbetrieb alter Kraftwerke. Ich frage mich, wie der Bundeswirtschaftsminister die irrationale Laufzeitverlänge­rung vor Vertretern dieser Wirtschaftsgruppen gerechtfertigt hat...



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