Freitag, 3. Februar 2017

Deutschland 1914: SPD und Erster Weltkrieg (II)

Der Reichstag des wilhelminischen Kaiserreiches hatte nicht viele Rechte, aber das Budget­recht hatte er. Wenn die Regierung Geld brauchte, war sie auf die Zustimmung des Reichstags angewiesen. Die Sozialdemokraten im Reichstag konnten das nicht verhindern, und es gab gute Gründe, einen offenen Aufstand gegen den Krieg für aussichtslos zu halten. Aber eine Zustimmung zu den Kriegskrediten, wie sie der #er Abgeordnete Eduard David verlangte, ging weit über die Hinnahme des Unvermeidlichen hinaus: Die SPD verzichtete damit nicht nur auf Widerstand, sie stimmte dem Krieg offen zu; sie unterstützte den Krieg einer Regierung, deren militaristischer und imperialistischer Charakter zuvor allgemein anerkannt gewesen war. Die Entscheidung fiel am 2. und 3. August in der Reichstagsfraktion unter dem Eindruck der deutschen Kriegser­klärung an Russland, und bevor der Krieg mit Frankreich und England Tat­sache war. 

Diese unklare Situation verhalf der Haltung des sozialdemokratischen Publizi­sten Friedrich Stampfer zum Durchbruch, der schon am 30. Juli geschrieben hatte: Die Arbeiter müssten dem Kaiser und den Generälen folgen, um die europäische Zivilisation vor der russisch-zaristischen Barbarei zu schützen. Durch Verteidigung des Vaterlandes, so Stampfer, könne sich das »freie Volk« auch im Innern ein freies Land erobern. Dies war die sozialdemokratische Vari­ante der  deutschen Idee eines »Schützengraben-Sozialismus«.
Am 2. August beschloss die Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerk­schaften unter Führung von Karl Legien, alle laufenden Lohnkämpfe abzubrechen, die Streikkassen in den Dienst der Kriegspolitik zu stellen und mit dem Geld Arbeitslose zu unter­stützen. Voller Stolz bot Legien der deutschen Regierung den Beistand »seiner« vorbildlichen Arbeiter-Orga­nisationen an. Von einem preu­ßisch-deutschen Reichskanzler als gleichberechtig­ter Verhand­lungspartner behandelt zu werden, das erfüllte ihm seine kühnsten Träume. Am gleichen Tag kämpfte Hugo Haase im SPD-Fraktionsvorstand gegen eine Annahme der Kriegskredite. Er konnte sich jedoch nicht gegen Eduard David, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann durchsetzen: mit vier gegen zwei Stimmen stimmte der Fraktionsvorstand für die Bewilligung der Kriegskredite.

Am 3. August fand die entscheidende Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion statt. Dass alle an­deren Fraktionen den Kriegskrediten zustimmen würden, stand außer Frage. 92 der 111 SPD-Abgeordneten waren anwesend. Eduard David, Ludwig Frank und Philipp Scheidemann spra­chen für die Annahme der Kriegskredite. Der Parteivorsitzende Hugo Haase, Rechtsanwalt und überzeugter Pazifist wie der Franzose Jaurès, sprach dagegen, ebenso der linke Flügelmann Karl Liebknecht, auch er Rechtsanwalt von Beruf und Sohn des SPD-Gründervaters Wilhelm Liebknecht. Noch zwei, drei Tage vorher hatten die mei­sten SPD-Politiker eine Ablehnung der Kriegskredite durch die Fraktion erwartet. Die hitzige Debatte wurde schon nach kurzer Zeit durch einen Antrag auf Schluss der Debatte abgebrochen. 78 Abgeordnete stimmten für und 14 gegen die Annahme der Kriegskredite. Haase vereinbarte mit Scheidemann, dass dieser die Entscheidung der Fraktion im Reichstag begründen sollte. Doch unmittelbar vor der Reichstagssitzung am 4. August zwang die Fraktions­mehrheit ihren Mitvor­sitzenden Haase, den gegen seinen Willen gefassten Beschluss selber im Reichstag zu begründen, indem sie an sein Pflichtbewusstsein appellierten. So trug der Pazifist jene schwammige Erklärung vor­, mit der die deutsche Sozialdemokratie ihre Zustim­mung zum Krieg des deutschen Kaiserreiches erklärte.[1] Der heimtückische und offen imperialistische Überfall auf Belgien hatte einige Stunden zuvor begonnen.

»Die Folgen der imperialistischen Politik ... sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. (...) Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir uns heute zu entscheiden, sondern über die Frage der zur Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (...) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. (...) Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus ... viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Das machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.«

Ein Passus, der sich ausdrücklich gegen deutsche Eroberungen wandte, wurde auf Druck der Regierung noch kurzfristig heraus­gestri­chen, angeblich, weil er einen Kriegs­eintritt Englands hätte befördern können. Es blieb bei dem allgemeinen Satz: »...wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr [der Internationale] jeden Eroberungskrieg verurteilen.« Alle Abgeordneten, darunter Karl Lieb­knecht, folgten der Fraktionsdisziplin und stimmten im Reichstag für die Kriegskredite. August Bebels mutiger Auftritt gegen den Deutsch-Französischen Krieg 1870 im Norddeutschen Reichstag war vergessen. Eine der tragischen Folgen von Haases Pflichtbewusstsein bestand darin, dass auch in der linksgerichteten Geschichts­betrachtung sein lebenslanger unermüdlicher Einsatz für den Frieden hinter dieser einen Stunde der Schwäche verschwand. Konservative Historiker hüteten sich indessen, den jüdisch-preußischen Sozialisten und Pazifisten für seinen »vater­ländischen« Einsatz zu loben.[2]

Der 4. August 1914 hatte für die deutsche und für die ganze europäische Arbeiterbewegung höchst weitreichende Folgen, die in vielfältiger Weise auf die deutsche Geschichte einwirken sollten. An diesem Tage scheiterte die 1889 in Paris gegründete II. Internationale, deren größte und wichtigste Partei die SPD gewesen war. Drei Wochen zuvor, am 12. Juli 1914, war sie noch mächtig und stark gewesen. Damals trafen sich im französischen Städtchen Condé sur l'Escaut an der belgischen Grenze 20.000 französische und belgische Arbeiter zu einer Friedenskund­gebung, auf der als deutscher Redner Karl Liebknecht sprach. Als der Deutsche auftrat, riefen Tausende: »Vive l'Allemagne!« – »Es lebe Deutschland!« Und der Vorsitzende der Ver­samm­lung erklärte, damit sei nicht das Deutschland der Hohenzollern, der Krupp und der mili­tärischen Cliquen gemeint, sondern das Deutschland der Goethe und Schiller, der Kunst, der Wissen­schaft, der Literatur und vor allem der Sozialdemokratie.[3]
Am 4. August 1914 begann die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen staatstreu-sozial­demo­kratischen und einen kommunistischen Flügel. Aus der Opposition gegen den Krieg ent­stand als Keimzelle der späteren KPD die »Gruppe Internationale«, der neben Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin auch der junge Wilhelm Pieck ange­hörte, später Mitbegründer und Präsident der DDR. In der Schweiz hatte die Gruppe Kontakt zu dem dort im Exil lebenden russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Der 4. August 1914 und die bestialische Grausamkeit der Kriegstreiber des Weltkriegs ließen bei Lenin und anderen den Gedanken reifen, der drei Jahre später zur Grundlage der russischen Oktober­revolution und der Kommunistischen Inter­nationale wurde: Die Arbeiter sollten aufhören, sich gegenseitig abzuschlachten, und die Waffen, die sie als Soldaten in den Händen hatten, auf die Offiziere, Machthaber und Profiteure des Krieges richten. Hier gründete Lenins Hass auf die »Sozialchauvinisten«, jene Sozialdemokraten, die die Idee der »Vater­lands­verteidigung« aner­kannten. In Lenins Todesjahr 1924 spitzte Stalin den unglück­seligen Begriff weiter zu in »Sozial­faschisten« und verbaute den deutschen Kommu­nisten damit den Weg zu einer Einigung mit der SPD gegen die wirklichen Faschisten.

Der von Hugo Haase und Karl Kautsky ab 1915 angelegte dritte, pazifistische Flügel begründete ebenfalls eine Traditionslinie, die später von Leuten wie Gustav Heinemann, Willy Brandt, Erhard Eppler und Heidemarie Wieczorek-Zeul wieder aufgegriffen wurde.





[1]     Zit. nach Chronik der Deutschen, S. 740
[2]     Über Haase fanden m. W. kein einziges positives Wort: Gordon Craig, Karl Dietrich Erdmann, Georg Fülberth, Fritz Klein, Jürgen Kuczynski. Fritz Fischer allerdings würdigte ihn: ##
[3]     "Volksfreund" (Karlsruhe) vom 18. 7. 1914, zit. nach Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin (DDR) 1966, S. 4.

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