Donnerstag, 12. Juli 2012

Wie eine geistige Befreiungsbewegung sich selbst entleibte (Nachtrag 2007)

Der Wikipedia-Artikel »Weißsein« (Stand 2007) liefert ein krächzendes, klapperndes und quietschendes Beispiel für das Elend des Dekonstruktivismus. Dabei ist der Grundgedanke des Artikels bzw. des dort beschriebenen Konzepts klar und gut, kräftig und fruchtbar: Es kommt darauf an, die Weißen als die Anderen, die Fremden wahrzunehmen, zu untersuchen, zu kritisieren, genau so wie sie es seit Jahrhunderten mit den Schwarzen tun. In der Tat freue ich mich schon lange auf die Ergebnisse einer klassischen Völkerkunde, die sich mit den merkwürdigen Riten und Gebräuchen der rosahäutigen Eingeborenen Mitteleuropas beschäftigt. [Es gibt so etwas von Diana Bonnelamé.]
Aber leider verschwindet dieser Gedanke in einem entsetzlichen Getöse und Geschwalle abstrakter Ausdrücke und kaum verständlicher Sätze, deren erstes Anliegen es zu sein scheint, sich dafür zu rechtfertigen, dass man überhaupt etwas auszusagen wagt,
und deren zweites Anliegen es ist, möglichst alles, was sie am Anfang ausgesagt haben, am Ende wieder aufzuheben:

Mit Weißsein sind gesellschaftliche Modelle ("cultural models") und ihre Schemata (Patterns) gemeint, die entweder rassistisch begründeten Herrschaftsverhältnissen oder einer "Dominanzkultur" zugerechnet werden können. Anwendungsgebiete sind Ethnisierung, Kolonialismus und Postkolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und Feminismus.
Mit dieser Kategorie soll ermöglicht werden, die Konstruktion des "Weißen" als des Einen und Eigentlichen, d. h. als bestimmende Norm im Verhältnis zu dem Abweichenden, Minderen, Anderen wahrzunehmen. Die Entwicklung und Veränderung allgemeiner gesellschaftlicher Normen wird als Diskurs aufgefasst... Dabei lässt sich mittels der Kategorie "Weißsein" betrachten, wie der Einzelne Konzepte und Objekte rassistischer Diskriminierung wahrnimmt.
In der Kritischen Weißseinsforschung wird dabei Weißsein in Verschränkung "mit anderen Strukturkategorien" gesehen… Mit Interdependenz ist gemeint, dass Weißsein im Zusammenhang mit unterschiedlichen Unterdrückungsformen betrachtet wird. Die Kategorie „Weißsein“ ist im Prozess der Vergesellschaftung somit nicht relevanter als andere Formen der Unterdrückung.

Mir scheint, das Diskurs-Dogma dieser ganzen Philosophie hat die Verhältnisse bzw. das Gespräch (den Diskurs) über die Verhältnisse unnötig verkompliziert, weil es jeden Begriff, jedes Wort, das man nun mal braucht, um sich verständigen zu können, gewohnheitsmäßig sofort in Frage stellt, entwertet, verbietet. Wir erleben, dass jedes Thema, sobald es aufgekommen ist, gleich wieder im Nebel verschwindet, weil die Begriffe, die man braucht, um über das Thema sprechen zu können, sofort mit einem Tabu belegt werden. Im nächsten Schritt wird die Postpostmoderne die Anführungsstriche der Postmoderne in Anführungsstriche setzen.

Das führt auch immer wieder zu Denkfehlern wie dem folgenden:
Eine typische Beobachtung ist zum Beispiel, dass Rassismus - unter Weißen - als Thema irrelevant erscheint, wenn die betroffenen Personen nicht anwesend sind. Kritisch betrachtet, beginnt hier bereits der Ausschluss von Personen. Denn Rassismus erscheint nur als relevant, wenn Schwarze Personen zum Gegenstand der Betrachtung werden. Dadurch erscheint Rassismus als Problem „Schwarzer“, nicht aber als Problem „Weißer“ Menschen. 
Das ist, mit Verlaub gesagt, Quatsch. Rassismus ist nun mal per definitionem ein Verhältnis zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen bzw. unterschiedlicher Hautfarben. Rassismus kann als Thema nur relevant sein, wenn er – in Form von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe – anwesend ist. Da kein Mensch über die geschätzt 80 Milliarden Probleme sämtlicher 8 Milliarden Menschen der Erde gleichzeitig sprechen kann, schließt jedes Gespräch zwischen Menschen irgendwelche anderen Menschen aus. Das kann gar nicht anders sein. Wer das ändern will, muss den Menschen das Sprechen verbieten – und diese Tendenz gibt es im Dekonstruktivismus in der Tat, in Form der zahllosen Tabus der »Political Correctness«.

Auch der nächste Schritt geht in die Irre:
Ein kritischer anti-rassistischer Ansatz ist es dabei, die Blickrichtung zu wechseln und statt des „Schwarzseins“ das „Weißsein“ als Problem zu betrachten. „Weißsein“ wird hier als Normalität wahrgenommen, die erst z. B. in der „kritischen Weißseinsforschung“ analysiert und im politischen Widerstand gegen Unterdrückung und Machtausübung aufgedeckt bzw. auch dekonstruiert werden soll.
Wissenschaftlerinnen… beschreiben die Schwierigkeit „Weißer“, den Blick auf sich selbst ‚als Weiße‘ zu richten, als „Farbenblindheit“ und als stärksten Ausdruck der „Normalisierung von Weißsein“, da er „nur die 'Anderen' als rassifiziert wahrnimmt und Rassismus so letztlich als an die Existenz dieser 'Anderen' gebunden betrachtet.“ Produziert werde der Rassismus dagegen in den dominanteren Teilen der Gesellschaft, die sich selbst als „weiß“ bestimmten, ohne sich dieser „weißen“ Normen genauer bewusst zu sein.

Hier verwechseln die Soziologinnen offenbar zwei Dinge: Die anthropologische Konstante, dass fast jeder Mensch die Normen, mit denen er als Kind aufgewachsen ist, anders bewertet als Normen und Umstände, die er erst später kennen gelernt hat, wird verwechselt mit Machtstrukturen in der Gesellschaft, die sich z. B. in Themenwahl und Topoi der Massenmedien äußern. Kein Mensch kann »aus seiner Haut«; fast jeder empfindet zunächst das als üblich und normal, was er als Kind kennen gelernt hat, und das als sonderbar, was er erst später kennen gelernt hat und vom Normalen abweicht. Offenbar brauchen wir beim Erwachsenwerden solche Kategorien, um uns erfolgreich in der Welt orientieren zu können.

Das sollte bei Afrikanern, Afroamerikanern oder Chinesen nicht anders sein. Hier wäre viel eher zu untersuchen, ob es bei ihnen dennoch anders ist: ob also schwarze Kinder schon früh so etwas lernen wie: »Wir sind zwar alle schwarz, aber das ist Pech; die richtigen, die glücklichen Menschen sind weiß.« Der Rassismus kommt meines Erachtens nicht darin zum Ausdruck, dass Menschen das Eigene und Gewohnte als normal empfinden, sondern er äußert sich gerade in der Störung dieses überlebenswichtigen Mechanismus. Wir kommen also nicht aus der Falle heraus, dass der Rassismus wie jedes Gewaltverhältnis vor allem ein Problem seiner Opfer ist. Es liegt in der Natur der Gewalt, dass sie ihren Opfern größeren Schaden zufügt als den Tätern.

An dieser Stelle wird deutlich, wie sich das Diskursdogma selbst ein Bein stellt: Indem es alles zum Diskurs erklärt, vernebelt es die Gewalt und damit die materielle Substanz der Unterdrückung. Da aber diese ganze Philosophie aus der Kritik an Unterdrückung und Gewaltverhältnissen entstanden ist, sägen die dekonstruktivistischen Soziologinnen und Historikerinnen den geistigen Ast ab, auf dem sie sitzen.

Ähnliches gilt, wenn wir den Bogen zurückschlagen zur guten Idee, die in dem Konzept »Weißsein« steckt. Den völkerkundlichen Blick auf die sonderbaren Riten der Europäer kann nur jemand entwickeln, der als Kind mit anderen Riten aufgewachsen ist und diese als normal empfindet. Nur wenn Schwarze die ganze Chose komplett umdrehen und das Schwarze als das Normale definieren, wird es gelingen, den Anspruch des Konzepts zu erfüllen und das Weiße in seiner ganzen Merkwürdigkeit, Lächerlichkeit, Ärmlichkeit und Absurdität wahrzunehmen und darzustellen.

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