Soziale Menschenrechte

95 Thesen zum Abbau sozialer Menschenrechte (2004)

Im Jahr 2004 habe ich im Umfeld von Attac folgende 95 Thesen verfasst und in Umlauf gebracht. Die meisten davon sind, von ein paar Namen und Daten abgesehen, leider immer noch aktuell. Martin Luther hat seine 95 Thesen anno 1517 an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt. Heute bräuchten wir wohl eine bekannte Person des Fernsehens, die ihre eigene Sendung kapert, um dort 95 Thesen gegen die Mächtigen unserer Tage dem Fernsehpublikum vorzutragen.

1. Die gegenwärtige Politik des BDI und der anderen Unternehmerverbände läuft darauf hinaus, die sozialen Menschenrechte abzubauen und die Grundlagen der Demokratie zu beseitigen.

2. Bundesregierung, SPD, Grüne, CDU, CSU, FDP und Massenmedien setzen dieser verfassungsfeindlichen Politik fast nichts entgegen oder befördern sie sogar.

3. Gewerkschaften, Sozialverbände, Teile der Kirchen, Wohlfahrts- und Umweltverbände, Attac, PDS und andere Linksgruppen sind zurzeit die einzigen Kräfte in Deutschland, die die sozialen Menschenrechte gegen die Offensive der Raubritter auf Unternehmerseite verteidigen.

4. Der Staat hat in der herrschenden Wirtschaftsordnung nur eine Möglichkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, das sind Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Eine Regierung, die den Abbau des öffentlichen Dienstes zum Programm erhoben hat, setzt den Abbau von Arbeitsplätzen und die Vergrößerung der Arbeitslosigkeit auf ihre Agenda.

5. Aktionäre, die die Ankündigung von Massenentlassungen mit verstärkter Aktiennachfrage und Spekulation auf steigende Aktienkurse belohnen, betreiben gezielt und bewusst den Abbau von Arbeitsplätzen und die Vergrößerung der Arbeitslosigkeit.

6. Indem sie massiv Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen und der Arbeitslosenversicherung abbaut, nimmt die Bundesregierung billigend in Kauf, dass Millionen von Menschen in Deutschland ins Elend getrieben werden.

7. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hat das Ziel, die Einkommen von Millionen von Arbeitern und Angestellten auf ein Niveau knapp oberhalb der Sozialhilfe abzusenken.

8. Das führt dazu, dass sich 10.000 Großaktionäre auf Kosten von vielen Millionen Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentnern hemmungslos bereichern können. Ihre Opfer werden in die Armut getrieben.

9. Der Zwang für Langzeit-Arbeitslose, jede beliebige, auch noch so schlecht bezahlte Stelle mit auch noch so schlechten Arbeitsbedingungen, an welchem Ort auch immer annehmen zu müssen, ist ein schreiender Verstoß gegen die in Artikel 12 GG garantierte Freiheit der Berufswahl und die in Artikel 11 GG garantierte Freizügigkeit, also gegen elementare Menschen- und Bürgerrechte.

10. Die verschärfte Anrechnung von Partnereinkünften bei Arbeitslosenhilfe und „Arbeitslosengeld II“ soll vor allem die ostdeutschen Frauen aus der Erwerbstätigkeit drängen. Das ist frauenfeindlich und kommt nicht in Frage.

11. Wer behauptet, es gebe nichts mehr zu verteilen, lügt. Die Regale sind voller Waren. Wir produzieren nach wie vor genügend Güter für alle. Es gibt nicht zu wenig Waren, sondern zu wenig Käufer. Die Einkommen der breiten Masse sind also nicht zu hoch, sondern zu niedrig.

12. Wer behauptet, der Sozialstaat habe sich übernommen, lügt. Die Basis für unseren Sozialstaat ist die Menge an Gütern und Dienstleistungen, die wir produzieren. Und die ist groß genug, um allen Menschen, die nicht arbeiten können, genug für ein menschenwürdiges Leben zu geben.

13. Wir brauchen kein Wachstum, um uns Arbeitsplätze und soziale Menschenrechte leisten zu können. Die Menge an Gütern und Dienstleistungen, die wir jetzt produzieren, reicht dafür vollkommen aus. Bei angemessener Besteuerung sämtlicher Einkünfte reicht sie auch aus, um uns einen Staat leisten zu können, der gemeinnützige Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst schafft.

14. Es gibt kein demographisches Damoklesschwert. Der Anteil der Rentner an der Bevölkerung steigt schon seit Jahrzehnten, ohne dass das gravierende Probleme aufgeworfen hätte. Da die aktiven Erwerbstätigen immer effizienter und produktiver arbeiten, erzeugen sie genug Waren, um damit alle Kinder und alle Rentner befriedigen zu können.

15. Sozialstaat und Tarifverträge sind internationale Standortfaktoren. Weitblickende ausländische Investoren wissen den Wert des sozialen Friedens in Deutschland und in den deutschen Betrieben zu schätzen, wissen, dass anständig bezahlte Arbeiter und Angestellte anständig arbeiten und Qualität erzeugen.

16. Der BDI will den Staat abbauen. Er redet immer von Bürokratie, doch der Staat, den er abbauen will, ist die Demokratie.

17. Der BDI will, dass Gesetze nicht mehr für Unternehmer gelten. Wir dagegen sind gesetzestreu. Wenn wir dem BDI Widerstand leisten, schützen wir das Gesetz.

18. Die Börsenlogik der Unternehmer durchdringt inzwischen alle Bereiche der Gesellschaft. Diese Logik ist zutiefst undemokratisch, weil sie den Maßstab Mensch durch den Maßstab Aktie (d. h. Besitz) ersetzt. In der Börsenlogik gilt nicht mehr der Grundsatz: ein Mensch, eine Stimme; sondern der Grundsatz: ein Euro, eine Stimme. Wenn wir dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen, retten wir die Demokratie.

19. Wer die Arbeitszeit der Beschäftigten ohne Lohnausgleich verlängern will, obwohl die Produktivität der Arbeit ständig steigt, senkt die Löhne und verteilt die Arbeit auf noch weniger Schultern als vorher.

20. Wer die Löhne senkt, zerstört die Kaufkraft der Konsumenten und vergrößert die inländische Konjunkturkrise.

21. Manager, die ausschließlich die kurzfristige Bereicherung der Großaktionäre betreiben, treiben unsere Wirtschaft und Gesellschaft ins Chaos.

22. Der blindwütige Konkurrenzkampf einiger Großkonzerne und die Durchsetzung des Konkurrenzprinzips auf allen gesellschaftlichen Ebenen treibt unsere Gesellschaft ins Chaos, weil unsere Fähigkeit zur vernünftigen Zusammenarbeit im gegenseitigen Vorteil zerstört wird.

23. Wer ausschließlich die Senkung von Produktionskosten im Kopf hat, zerstört unweigerlich die Qualität unserer Produkte und Dienstleistungen, den innereuropäischen Markt und unsere Fähigkeit, neue Produkte und Leistungen für die Menschen zu entwickeln.

24. Die gegenwärtige wirtschaftspolitische und wirtschaftswissenschaftliche Debatte ist vollkommen einseitig auf die Industrieproduktion fixiert. Sie vergisst fast völlig, dass auch die unmittelbare Dienstleistung von Menschen für Menschen Werte schafft.

25. Sie vernachlässigt das deshalb, weil mit Dienstleistungen wie Bildung, Pflege oder öffentlichem Verkehr bislang noch kaum ein Aktionär reich geworden ist. Das zeigt, wie weit der Börsenmaßstab von der realen Gesellschaft der Menschen entfernt ist.

26. Der öffentliche Dienst ist kein Ballast, sondern dient der Daseinsvorsorge der Menschen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen. Wer das abbaut, schadet den Menschen im Lande.

27. Katastrophale Stromausfälle in den USA, in Italien, Großbritannien und Dänemark, Zugunglücke in Großbritannien und explodierende Wasserpreise in Guinea zeigen, dass Privatunternehmer nicht in der Lage sind, eine sichere Daseinsvorsorge für die Bevölkerung zu garantieren.

28. Privatunternehmer entscheiden sich unter dem Diktat der Börse im Zweifel für den kurzfristigen Profit ihrer Aktionäre und gegen die langfristige Sicherheit ihrer Kunden und ihrer Mitarbeiter.

29. Der Brand im Düsseldorfer Flughafen, der 11. September 2001 und der Flugzeugzusammenstoß über dem Bodensee haben gezeigt, wozu Lohndumping in sensiblen Bereichen wie der Flugsicherheit führt: Wegrationalisierte, unterbezahlte und überarbeitete Sicherheitskräfte und Fluglotsen sind nicht mehr in der Lage, Verbrechen und Unglücke zu verhüten. Ähnliches gilt für Polizisten und Feuerwehrleute.

30. Reiche können so tun, als brauchten sie keinen Staat. Wer nicht reich ist, ist darauf angewiesen, dass der Staat seine Menschenwürde und seine Rechte verteidigt. Andernfalls gilt nur noch das Recht des Stärkeren, also das dümmste und primitivste Recht.

31. Die Heuchelei des BDI und des DIHT ist unerträglich, wenn sie mit der linken Hand staatliche Subventionen für die Kohle, staatliche Investitionsförderungen, staatliche Infrastrukturleistungen oder staatliche Rüstungsaufträge einkassieren und mit der rechten Hand auf den Staat und seine Steuern einschlagen.

32. Der Staat muss wieder dort Steuern kassieren, wo das Geld ist.

33. Das heißt zum Beispiel: Die Vermögensteuer muss wieder eingeführt werden.

34. Das heißt zum Beispiel: Die Erbschaftsteuer muss erhöht werden; die Vererbung von Haus- und Grundbesitz muss angemessen versteuert werden.

35. Das heißt zum Beispiel: Die Gewerbesteuer muss auf sämtliche Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit, Vermietung und Verpachtung ausgedehnt werden.

36. Das heißt zum Beispiel: Gewinne aus dem Verkauf von Unternehmen und Aktien müssen wieder angemessen versteuert werden.

37. Das heißt zum Beispiel: Internationale Finanztransaktionen müssen mit mindestens 1% ihres Umsatzes pauschal versteuert werden.

38. Das heißt zum Beispiel: Ein erhöhter Mehrwertsteuersatz auf Luxusgüter (z. B. Autos ab einem bestimmten Gewicht, privat genutzte Immobilien ab einer bestimmten Größe, Flugreisen in der Businessklasse, Luxushotels) muss eingeführt werden.

39. Nur eine progressive Einkommensteuer belastet jeden nach seinen Fähigkeiten. Der Eingangssteuersatz muss sinken, der Spitzensteuersatz bei 45% bleiben. Die scharfe Zunahme des Steuersatzes im mittleren Segment muss abgeflacht werden. Das ist nur dann möglich, wenn der Steuersatz im oberen Segment weiter ansteigt.

40. Die Steuerquote (der Anteil der staatlichen Steuereinnahmen am Brutoinlandsprodukt) steigt nicht, wie die Lügner sagen, sondern sinkt seit 2000. Das ist die Hauptursache der Finanznot der öffentlichen Haushalte. Im internationalen Maßstab liegt die deutsche Steuerquote nicht, wie die Lügner sagen, besonders hoch, sondern besonders niedrig; die Steuer- und Abgabenquote liegt im Mittelfeld. Deshalb wollen wir, dass die Steuerquote steigt.

41. Der deutsche Staat investiert viel zu wenig. Der Anteil der öffentlichen, also gemeinnützigen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt ist seit zehn Jahren rückläufig und liegt derzeit nur noch bei 1,6%, während er im EU-Durchschnitt bei 2,4% stabil geblieben ist. Wir wollen mehr staatliche Mittel für gemeinnützige Zukunftsinvestitionen.

42. Die Verteilung der Steuerlast auf die Bevölkerung wird schon seit vielen Jahren immer ungerechter. Der Anteil der Lohnsteuer an den gesamten Steuereinnahmen ist zwischen 1977 und 2002 von 30 auf 35%, der der Mehrwert- und Verbrauchssteuern von 33 auf 44% gestiegen. Der Anteil der Gewinn- und Vermögensteuern ist von 29 auf 14% gesunken. Deshalb wollen wir, dass Gewinne und Vermögen wieder stärker besteuert werden.

43. Die Steuermoral der Unternehmer steigt mit der Zahl der Betriebsprüfungen, und diese steigt mit der Zahl der Betriebsprüfer. Verdoppeln wir diese einfach!

44. Das Steuerrecht kann dadurch vereinfacht werden, dass man nur noch vier verschiedene Einkunftsarten unterscheidet: 1) Einkünfte aus unternehmerischer und freiberuflicher Tätigkeit; 2) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit; 3) Einkünfte aus Kapitalvermögen; 4) Versorgungseinkünfte u.ä. Die Einkünfte 2-4 werden am einfachsten und effektivsten direkt an der Quelle besteuert.

45. Die ganzen steuerlichen Sonderrechte für Großkonzerne und Großaktionäre haben einen neuen Kapitaladel entstehen lassen, der mit vollen Händen staatliche Leistungen in Empfang nimmt, die Finanzierung sämtlicher gemeinnützigen und zukunftsorientierten Aufgaben aber diskret dem Rest der Bevölkerung überlässt. Damit ist jetzt Schluss.

46. Steuerflucht ins Ausland kriegen wir dadurch in den Griff, dass wir die Einkünfte grundsätzlich am Wohnort besteuern und erlauben, im Ausland bereits entrichtete Steuern anzurechnen.

47. Kapitalflucht gibt es immer, so lange es Kapitalverkehr gibt. Deshalb ist es Unfug, notwendige Maßnahmen, z. B. Steuern, aus Angst vor Kapitalflucht zu unterlassen. Das führt nur dazu, dass Kapital aus anderen Ländern nach Deutschland flieht und wir auf diese Weise andere Staaten schädigen.

48. Steuer-Oasen müssen durch massiven internationalen Druck und Drohung mit ernsthaften Sanktionen (z. B. Behinderung des Flugverkehrs) zur Kooperation gezwungen werden.

49. Die Gewerkschaften bekämpfen internationales Lohndumping, indem sie ihre Schwesterorganisationen in Osteuropa beim Kampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten unterstützen. Es liegt im Interesse des deutschen Sozialsystems, wenn dieser Einsatz von der Bundesregierung, vor allem vom Auswärtigen Amt, unterstützt wird.

50. Die Bundesregierung muss sich innerhalb der EU, der OECD und der WTO für internationale Standards bei der Mindestbesteuerung von Unternehmen einsetzen.

51. Flug- und Schiffsverkehr sind viel zu billig. Das Preisdumping in diesem Bereich wird auf Kosten der Belegschaften, der Umwelt und des Klimas ausgetragen und erzeugt kurzfristig Möglichkeiten zur Kapital- und Produktionsverlagerung, die sich längerfristig negativ auf die Gesellschaften auswirken.

52. Die Steuerbefreiung des internationalen Flugverkehrs steht in einem krassen Widerspruch zur Umweltbelastung und muss sofort gestoppt werden. EU-weite und internationale Sicherheitsstandards müssen Minima für Quantität und Qualität des Personals festlegen.

53. Ähnliches gilt für den Schiffsverkehr. Schiffe, die bestimmte Standards an technische Sicherheit, Quantität und Qualität des Personals nicht einhalten, müssen samt Ladung beschlagnahmt werden.

54. Aus Sicherheitsgründen muss vorgeschrieben werden, dass Lkw ab einer bestimmten Größe stets mit zwei ausgebildeten Fahrern besetzt werden müssen.

55. Die Lkw-Maut muss sofort eingeführt werden. Sie soll nach französischem Vorbild von lebendigen Angestellten kassiert werden, dann funktioniert es auch.

56. Alle diese Maßnahmen verteuern den Güterverkehr über weite Entfernungen. Dieser Effekt ist ökonomisch wie ökologisch von Vorteil, weil er dazu führt, dass Unternehmen wieder stärker in der Nähe ihres jeweiligen Absatzgebietes produzieren und ihre Lagerhaltung vergrößern. Das wirkt dem Arbeitsplatzabbau in Deutschland entgegen.

57. Eine Fülle von öffentlichen Aufgaben wartet seit Jahren darauf, endlich angepackt zu werden. Dafür sind mehr Personal im öffentlichen Dienst und mehr Sachmittel nötig. Andererseits darf die Staatsverschuldung nicht weiter ansteigen. Es gibt also keine Alternative zu höheren Steuereinnahmen.

58. Nur höhere Steuereinnahmen können aus der Staats- und Wirtschaftskrise herausführen. Auf dieser Grundlage kann man Arbeitsplätze schaffen, die Zukunft gestalten und die Auftragslage vieler Betriebe verbessern.

59. Das Bildungswesen droht an der Finanzmisere der öffentlichen Haushalte zugrunde zu gehen. Höhere Steuereinnahmen machen es endlich möglich, mehr Erzieherinnen, Lehrer und Sozialpädagogen einzustellen, genügend Kindergärten bereitzustellen, die Klassen zu verkleinern, das Gewaltproblem und die Sprachprobleme an den Schulen in den Griff zu bekommen und dafür zu sorgen, dass unsere Kinder wieder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.

60. Die Altenpflege droht wegen der Finanzmisere der Sozialkassen zu verkommen. Höhere Steuereinnahmen machen es möglich, die Sozialkassen zu entlasten und so genügend qualifizierte und motivierte Pflegekräfte einzustellen, die mithelfen können, unseren Alten einen menschenwürdigen Lebensabend zu verschaffen.

61. Höhere Steuereinnahmen geben den Städten und Gemeinden endlich wieder die Mittel, seit Jahren aufgeschobene Reparaturen, Anschaffungen und Investitionen zu tätigen. Dadurch kommen zahlreiche Handwerksbetriebe, Einzelhandelsbetriebe und Dienstleistungsbetriebe wieder auf einen grünen Zweig.

62. Nur der Staat ist in der Lage, mit Investitionen in Umweltschutz, Klimaschutz, Naturschutz, Hochwasserschutz usw. rechtzeitig dafür zu sorgen, dass die Menschen auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch angenehme Lebensbedingungen vorfinden. Dafür braucht er höhere Steuereinnahmen und mehr Personal.

63. Der gegenwärtige Personalabbau lässt die öffentlichen Verkehrsmittel verkommen. Die Bahn und andere öffentliche Verkehrsmittel brauchen in erster Linie mehr Personal, um attraktive, menschen- und umweltfreundliche Verkehrsverbindungen bereitstellen zu können. Unbemannte Bahnhöfe sind nicht attraktiv, weil sich die Menschen dort unwohl und bedroht fühlen. Mit höheren Steuereinnahmen kann der Staat entsprechende Leistungen bestellen.

64. Nur anständig bezahlte und gut ausgeruhte Lokführer und Busfahrer fahren so sicher und zuverlässig, wie ihre Fahrgäste gefahren werden möchten. Das ist wichtiger als Börsengänge.

65. Nur anständig bezahlte, nicht gehetzte Briefträgerinnen tragen die Post so zuverlässig aus, wie die Absender und Adressaten das haben möchten. Das ist wichtiger als Aktienkurse.

66. Der alte Verbund von Bahn und Post war nachhaltig, hat Arbeitsplätze gesichert und gleichzeitig die Umwelt geschont. Wir sollten ihn so schnell wie möglich wiederherstellen. Wir brauchen Arbeitsplätze, weniger Verkehrslärm und gute Luft; Aktienspekulationen brauchen wir nicht.

67. Das größte akute Problem der Krankenversicherungen ist nicht ein angebliches demographisches Schicksal, sondern die Beitragsausfälle durch hohe Arbeitslosigkeit. Das zweitgrößte Problem sind die vielen, meist hohen Einkommen, die keinen Beitrag zur Finanzierung des Solidarsystems leisten. Hier müssen alle Lösungsversuche ansetzen.

68. Der gegenwärtige Leistungsabbau in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Senkung der Renten führen in die Irre. Arbeiter, Angestellte und Rentner müssen einen größeren Anteil ihres Einkommens für Versicherungen aufwenden und haben weniger Geld für den Konsum zur Verfügung. Diese so genannten Reformen treiben die Menschen aus den Kaufhäusern und Einkaufsvierteln heraus, treiben Einzelhandel, Möbelindustrie, Landwirtschaft und viele andere Erzeuger von Konsumartikeln in den Ruin. Das vergrößert die Arbeitslosigkeit und verschärft die Probleme der Renten- und Krankenversicherung, statt sie zu lösen.

69. Die nächste Runde des Abbaus sozialer Rechte und Leistungen ist also vorprogrammiert. Mithin wird klar: Ziel der „Reformen“ ist die totale Zerstörung des solidarisch finanzierten deutschen Sozialsystems.

70. Dahinter steckt das ideologische Ziel der Unternehmerverbände, die Solidarität der Starken mit den Schwächeren, ein Grundprinzip unserer Demokratie, zu beseitigen. Dieses Prinzip müssen und werden wir erhalten – durch sozialen und demokratischen Widerstand.

71. Die deutschen Großunternehmer haben vergessen, dass ihre Gewinne auch vom sozialen Frieden abhängig sind. Nur handfester Widerstand von unten gegen die Großunternehmer ist jetzt noch in der Lage, ihnen diese Lektion wieder ins Gedächtnis zu rufen.

72. Auch die 19 Millionen Rentnerinnen und Rentner sowie die 5 Millionen Arbeitslosen sind fähig und aufgerufen zu wirksamen Aktionen des gewaltfreien Widerstands.

73. Nicht wir verlassen den Boden der Gesetze, sondern die Großunternehmer. Offen propagieren sie gesetzlose Zustände für Unternehmer.

74. Unser Widerstand findet seine verfassungsmäßige Rechtfertigung im Widerstandsrecht des Grundgesetzes (Artikel 20 Abs. 4: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«)

75. Die Raubritter unserer Zeit heißen Ackermann, Albrecht, Beisheim, Braun, Hartmann, Henkel, von Pierer, Pischetsrieder, Quandt, Rogowski und Schrempp. Sie haben nur eines im Sinn: sich hemmungslos zu bereichern, und zwar sofort und ohne jede Rücksicht auf die Allgemeinheit oder die Zukunft.

76. Wenn die Raubritter Arbeitsplätze vernichten, dann tun sie das vor allem deswegen, weil dann die Kurse ihrer persönlichen Aktienpakete steigen und sie auf diese Weise in wenigen Tagen Millionengewinne einstreichen können.

77. Wenn die Raubritter Fusionen betreiben, dann tun sie das vor allem deswegen, weil dann ihre Vorstandsgehälter steigen und sie ihre persönliche Machtposition ausbauen können.

78. Dem Ziel der persönlichen Bereicherung und Machtentfaltung opfern die Raubritter bedenkenlos auch die wohlverstandenen, längerfristigen Interessen ihrer Konzerne. In ihrem kollektiven Größenwahn haben sie vergessen, dass ein Konzern nicht nur aus seinen Großaktionären besteht.

79. Was sich da neoliberal nennt, hat mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Die Clique, deren Griff nach der Weltmacht wir gerade erleben, ist neofeudalistisch. Sie zahlt keine Steuern, stellt sich außerhalb des Gesetzes, führt überall das große Wort und übernimmt keinerlei Verantwortung für die Zukunft – genau wie jene parasitären Aristokraten, die die Französische Revolution einst hinwegfegte.

80. Wenn wir den Raubrittern entgegentreten, schützen wir die Deutsche Bank vor Ackermann, schützen wir Aldi vor Albrecht, schützen wir Metro vor Beisheim, schützen wir die RWE vor Hartmann, schützen wir Volkswagen vor Pischetsrieder, schützen wir Siemens vor v. Pierer, schützen wir Daimler-Benz vor Schrempp.

81. Die Raubritter und ihre willfährigen Politiker, Professoren und Publizisten haben es auf den Bürger abgesehen. Auf allen Ebenen versuchen sie, die Bürger zu Kunden zu machen. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger wird ersetzt durch das Verhältnis zwischen Lieferant und Kunde. Diese Entwicklung untergräbt die Grundlagen von Freiheit, bürgerlicher Gleichheit und Demokratie.

82. Bürger sind vor dem Gesetz gleich. Kunden sind vor dem Lieferanten ungleich: Reiche Kunden sind gute Kunden und werden gut bedient. Arme Kunden sind schlechte Kunden und werden schlecht bedient. Wenn Bürger zu Kunden werden, ist das gut für die Reichen und schlecht für die Armen.

83. Für die Mittelgruppe, die weder reich noch arm ist, ändert sich dadurch zunächst wenig. Doch dann erkennt sie: Die Angst nimmt zu – die Angst, in die Armut abzurutschen und dann genau so schlecht bedient zu werden wie die Armen. Diese Angst soll die Leute gefügig machen.

84. Wer gefügig ist, ist nicht mehr frei. Gefügige Menschen verlieren ihre Freiheit: die Freiheit, Nein zu sagen, wenn der Chef etwas von ihnen will. Freiheit und Gleichheit sind kein Widerspruch, sondern hängen zusammen.

85. Wer länger arbeiten muss für weniger Geld, hat den Schaden. Wer den Schaden hat, hat das Recht, sich zu wehren.

86. Niemand weiß, ob längere Arbeitszeiten und geringere Löhne wirklich Arbeitsplätze retten. Aber eines wissen wir: Unsere Arbeit war vorher schon hart genug. Wir haben vorher schon alles gegeben und genug produziert. Und unser Einkommen war vorher schon knapp genug.

87. Wie Leute, die weniger Zeit und weniger Geld haben als vorher, mehr kaufen, mehr verreisen und mehr ausgehen sollen, wird immer ein Geheimnis deutscher Ökonomieprofessoren und Wirtschaftsredakteure bleiben.

88. Wenn sie uns heute sagen, wir sollen länger arbeiten für weniger Lohn, dann gibt es nur eins: Wir sagen Nein.

89. Wenn sie uns dann sagen, wir verlagern die Produktion nach Bulgarien, dann gibt es dagegen fünf Mittel:

90. Wir können den Transport der Güter teurer machen, wie oben gezeigt.

91. Wir können unseren bulgarischen Kolleginnen und Kollegen dabei helfen, höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen.

92. Wir können in der Dienstleistung von Mensch zu Mensch arbeiten; solche Arbeitsplätze kann man nicht nach Bulgarien verlagern.

93. Wir können mit höheren Steuereinnahmen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst schaffen, wo sie dringend gebraucht werden.

94. Wir können durch gewaltfreie Aktionen von Arbeitslosen und Rentnern an den richtigen Stellen den Aktionären ein wenig Angst um den sozialen Frieden einjagen und so dafür sorgen, dass die Aktienkurse fallen, wenn jemand Massenentlassungen ankündigt. Das ist die Sprache, die die Raubritter verstehen.

95. Man kann es auch ganz kurz sagen (mit Brecht):
Ohne euch reicht’s für uns schon.

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