Montag, 27. Dezember 2010

Selbstkritik eines politischen Journalisten

Bernd Ulrich schrieb in der »Zeit« (16.12.2010) eine erstaunliche Selbstkritik des politischen Journalismus in Form eines Jahresrückblicks.  Er bilanzierte: Odenwaldschule, Migranten und Sarrazin, Wikileaks, Politikerschelte.

1999 veröffentlichte die »Frankfurter Rundschau« erstmals Meldungen über den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule, und der Rest der Presse schwieg dazu, um die Reformpädagogik zu schützen. Mangels Migranten in den Redaktionen ersetzte man Wissen über real existierende Konflikte in der Gesellschaft durch hohle »politische Korrektheit«, bis Thilo Sarrazin kam. Dann ging das scheinbar gleichgeschaltete Empörungskartell über Sarrazin los, löste im Internet eine Gegenwelle aus, und prompt wichen plötzlich alle Journalisten zurück und schwenkten auf die Sarrazin-Linie ein, berichteten nur noch über Neuköllner Kiezkriege. Nach der Wikileaks-Blase mussten plötzlich »Spiegel«-Redakteure so tun, als erführen sie zum ersten Mal, dass das pakistanische Militär ein Doppelspiel treibt und bei der Klimakonferenz von Kopenhagen Usa und China gmeinsame Sache gegen die EU gemacht haben – nur weil Wikileaks diese längst bekannten »Neuigkeiten« erneut »enthüllt« hatte. Ja, Bernd Ulrich analysierte sogar den Beitrag der politischen Journalisten zur allgegenwärtigen Hetze und Häme gegen (demokratische) Politiker an sich – mitsamt dem Umstand, dass sie auf diese Weise den Ast absägen helfen, auf dem sie selber sitzen. Bemerkenswert auch seine beiden Fazits: 1) Die Demokratie ist in Gefahr. 2) »Konkret bedeutet das, dass wir gegen jede konkrete Politik anschreiben können, nur nicht gegen alle Politik. Dass wir die Kriterien der Kritik offenlegen müssen und diese Kriterien nicht so anlegen dürfen, dass die Politik immer nur verlieren kann.« (Siehe dazu mein Beitrag über Köhler, dpa und »die Politik«.)
Bernd Ulrichs Wort in der Chefredakteure Ohr!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen